Keinheimisch, Tonali
Keinheimisch, Tonali
Tomer Dotan-Dreyfus
In der Identitätskrise
Als in Berlin lebender jüdischer Israeli ist eine Identitätskrise fast vorprogrammiert, könnte man denken. Als Tomer Dotan-Dreyfus seinen Eltern erzählte, dass er ein Buch über sein Leben schreiben würde, meinten seine Eltern nur: Was für ein langweiliges Buch! Doch ein ganz normales Leben in einem so verrückten Land wie Israel gibt jemanden wie Dotan-Dreyfus genug Stoff für ein ganzes Buch. Aber am besten in einer Sprache, die seine Eltern nicht verstehen können.
So denkt er zuerst bei seiner Lesung von „Keinheimisch“, die der Jüdische Salon im Tonali-Saal veranstaltet, über den Schrei nach, der seinen Opa in den Selbstmord getrieben hat. Es war der Schrei seines Babybruders, den die Deutschen im Warschauer Ghetto aus dem Mietshaus auf den Laster warfen. Dieser Schrei verfolgte ihn sein Leben lang, auch noch nach seiner Auswanderung in das neu gegründete Israel. In ihm starb er. Als Dotan-Dreyfus 2013 nach Berlin zog, erwartete er ein anderes Land, doch Deutschland habe ihn angelogen. Hier werde ebenso wie in seinem Vaterland das Unwissen konstruiert. Es wird zu einem Ding materialisiert, das den späteren Wissenserwerb fast unmöglich macht.
In einem Kapitel über seinen Armeedienst wird genau dieser Aspekt deutlich. Er musste einen Teil von sich verleugnen, wenn er seinen Dienst ableistete. Wenn er am Freitag ins Wochenende entlassen wurde, fuhr er direkt zu einer Demonstration der Linken. Doch Militärdienst-Verweigerung kam nicht in Frage. Wenn nur ein Weg als Normalität dargestellt werde, begreife ein junger Mensch eher sich selbst als das Problem. Wenn man beim Besuch in Auschwitz als 17-Jähriger beim Anblick der Schuhberge und der Haarhaufen gesagt bekommt: Du bist mit deinem Militärdienst dafür verantwortlich, dass das nie wieder passiert. Dann ist Verweigerung keine Option.
Das Unwissen wird so inhärent, dass das Wissen keinen Raum bekommen kann. Denn es würde bedeuten, ein Teil seiner geglaubten Identitäten abzuschneiden. So wurde ihm immer erzählt, dass sein Großvater gegen die Nazis gekämpft hatte. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Seine Einheit kämpfte auch danach noch weiter, jetzt aber vertrieben sie die Palästinenser, um die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Juden zu verschieben.
Dotan-Dreyfus macht es niemanden einfach. Er hinterfragt gnadenlos, zuerst sich selbst, dann den Staat Israel und selbstverständlich auch Deutschland. Aufarbeitung der Vergangenheit? Auch hier Fehlanzeige. Stattdessen Pflegen von Narrativen, die das Unwissen kultivieren.
Die Gründung des Nationalstaats Israel gab den Deutschen die Möglichkeit, seine Erzählung der Wiedergutmachung zu feiern und gleichzeitig die Juden auszugliedern. Aber ebenso gelte dies für die Juden, die nun bei der Gründung ihres eigenen Territoriums genau die Fehler der Anderen in Israel-Palästina wiederholten. Denn dieses Konzept des Nationalstaates bedeutet Grenzziehung zwischen Wir und Ihr, zwischen Innen und Außen, zwischen Juden und Arabern.
Gefragt nach der Bedeutung der Staatsräson Deutschlands, antwortet Dotan-Dreyfus mit der Gegenfrage: Verantwortung wem gegenüber? Der Regierung Israels? Den Juden? Oder nicht vielmehr den Menschenrechten? Sein Buch hat er den Kindern von Gaza gewidmet. Er vermutet hinter dem vermeintlichen Kampf gegen den Antisemitismus nur die Instrumentalisierung für eine rechte autoritäre Politik. Ein Frieden ohne die Veränderung der Machtverhältnisse? Eine Farce!
Dotan-Dreyfus stellt viele Fragen, gibt aber gleich zu, dass er keine Antworten gefunden hat. Sein Buch sei ein erfolgloser Therapieversuch gewesen. Dennoch sei es notwenig, in die Sonne zu schauen. Auch wenn man geblendet zurückbleibe und erst mal noch weniger sehen könne. Hinschauen, sich dem Unwissen stellen, die schmerzhaften Irrtümer beleuchten und eventuell ein wenig mehr verstehen.
Für die Besucher:innen der Lesung war dieser Abend äußerst erhellend. Solche Stimmen hört man selten in Deutschland. Doch sie ermöglichen eventuell eine ehrliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und damit auch mit der Gegenwart, um das kultivierte Unwissen zu bearbeiten, das Schweigen und das Lügen aufzubrechen und in ein wahrhaftiges Gespräch und Verständnis vorzustoßen. Dieses Ziel ist sowohl in Deutschland wie in Israel noch lange nicht erreicht und demzufolge auch nicht in dem Verhältnis der beiden Ländern zueinander.
Birgit Schmalmack vom 21.10.25
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