
  Macht, Schauspielhaus	
  Die junge Regisseurin Patricia Camille Stövesand hat den Roman der norwegischen Autorin Heidi Furre behutsam und berührend auf die intime Bühne des Rangfoyers im Schauspielhaus gebracht. Ohne moralischen Impetus oder überdeutliche Botschaft. Ob dafür die Erläuterungen zu der MeToo-Bewegung nötig gewesen wären, die Thorje während des Stückes ganz sachlich referiert, kann man diskutieren, aber sie machen die Arbeit nicht weniger sehenswert. Denn im Zentrum steht diese Frau, die aus der eigenen Ohnmacht herausfinden und mit einem enormen Energieaufwand die Gewalt in sich verschließen will und merkt, dass diese einer eigenen Logik folgt. Das Gift der Gewalt sickert trotzdem ein. Während Livs Stimme weiter aus dem Off spricht, bewegt Reusse sich mit eckigen, verzweifelten, verkrampften und kräftigen Schritten über die Bühne, bis sie die Stoffbahnen herunterreißt und sich in den riesigen Stoffberg wirft. Erst durch den Mut, die eigene Ohnmacht einzugestehen kann neue Macht erwachsen. (Foto: Thomas Aurin)        
    
                  
  Was ihr wollt, Thalia
  So bekommt Anne Lenks Inszenierung von William Shakespeares „Was ihr wollt“ am Thalia Theater auf den letzten Metern doch noch einen Spaß dämpfenden Unterton. Der verletzte Junge-Union-Wähler Molvolio nervte schon vorher als spießiger Regelwächter und träumte derweil vom Klassenaufstieg, um endlich über den Anderen zu stehen. Das zahlen sie ihm durch einen üblen Spaß heim, durch den er so gedemütigt ist, dass er Rache schwört. Denen, bei denen es so drunter und drüber geht, will er es zeigen.  (© Katrin Ribbe)        
    
                  
  Mrs. Warren's Profession, National Theatre Live, S
  Zwei starke Frauen treffen hier aufeinander. Sie werden furios von den beiden Schauspielerinnen Imelda Staunton und Bessie Carter gespielt. Die Männerfiguren um sie herum werden dabei fast zu belanglosen Randfiguren. Sowohl die Mutter wie die Tochter weisen sie immer wieder in ihre Schranken. Die Ausbeutung von Arbeitskräften in Billiglohnjobs, die für Frauen eine Arbeit als Prostituierte attraktiv macht, ist auch heute noch aktuell. Doch Regisseur Dominic Cooke beließ das Stück für seine Inszenierung am National Theatre, das nun als Live-Film im Savoy zu sehen war, in seiner Zeit. Er vermied dadurch Brüche, aber machte es den Zuschauenden auch leicht, die Probleme des 19. Jahrhunderts in der Vergangenheit zu belassen.        
    
                  
  Wenn die Rolle singt oder der vollkommene Angler,
  „Wenn die Rolle singt oder der vollkommene Angler“, von der Regisseurin Johanna Louise Witt in Zusammenarbeit mit den beiden Schauspielern Thomas Niehaus und Paul Schröder entwickelt, ist zu einer Kultshow am Thalia Theater geworden, die seit 2016 sicher schon hundert (jedenfalls in der Rechnung der beiden Angler) Aufführungen erlebt hat. Es ist ein zum Brüllen komischer und gleichzeitig berührender Abend. Er stellt zwei bodenständige deutsche Vereinsmitglieder ins Scheinwerferlicht und zeigt sie als Menschen, die während ihres stundenlangen Herumblödelns zu einer Tiefe hinter der schlichten Fassade in der Lage sind, die das Bildungsbürgertum im Publikum ihnen wohlmöglich gar nicht zugetraut hätte.        
    
                  
  Marschlande, Thalia
  Ein klar emanzipatorisches Stück, das hier auf der Bühne des Thalia Theaters zu sehen ist. Doch die Parallelität der beiden Geschichten greift zu kurz. Die klare, zu einfache Aufteilung in Opfer und Täter hilft heute nicht auf dem Weg zur Gleichberechtigung weiter. Vor fünfhundert Jahren fehlten den Frauen noch die rechtlichen Mittel, um sich zu wehren. Doch heute ist das Geflecht aus Abhängigkeiten, Wünschen und Verpflichtungen wesentlich komplexer. Das wird im Stück leider nur angedeutet. So bleibt es zunächst beim wohligen Gefühl des Wiederkennens und der Hoffnung auf Frauensolidarität, könnte aber hoffentlich im nächsten Schritt dazu führen, über die Ursachen (auch selbst-)kritischer nachzudenken. Meinte das Britta etwa, als sie zu ihrer Tochter am Schluss sagt, dass sie erst in die Vergangenheit gehen musste, um ihre eigene Gegenwart zu verstehen? Sind wir tatsächlich noch keinen Schritt weiter? © Kerstin Schomburg        
    
                  
  Nächstes Jahr Bornplatzsynagoge, Kammerspiele
  Dieses Stück soll ein Zeichen setzen, für Verständigung, für Versöhnung, für Gerechtigkeit und für ein Miteinander. Doch erst einmal ist die Bühne leer. Nur drei durchsichtige Vorhänge sind zu sehen. Denn um diese Leere, die auch auf dem Platz herrscht, auf dem vor 1938 die Bornplatzsynagoge stand, kreist das Stück von Axel Schneider. Er hat es in den Kammerspielen, die nur ein paar hundert Meter von dem Platz entfernt liegen, nicht nur inszeniert, sondern auch geschrieben.        
    
                  
  Keinheimisch, Tonali
  Dotan-Dreyfus stellt viele Fragen, gibt aber gleich zu, dass er keine Antworten gefunden hat. Sein Buch sei ein erfolgloser Therapieversuch gewesen. Dennoch sei es notwenig, in die Sonne zu schauen. Auch wenn man geblendet zurückbleibe und erst mal noch weniger sehen könne. Hinschauen, sich dem Unwissen stellen, die schmerzhaften Irrtümer beleuchten und eventuell ein wenig mehr verstehen.  Für die Besucher:innen der Lesung war dieser Abend äußerst erhellend. Solche Stimmen hört man selten in Deutschland. Doch sie ermöglichen eventuell eine ehrliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und damit auch mit der Gegenwart, um das kultivierte Unwissen zu bearbeiten, das Schweigen und das Lügen aufzubrechen und in ein wahrhaftiges Gespräch und Verständnis vorzustoßen. Dieses Ziel ist sowohl in Deutschland wie in Israel noch lange nicht erreicht und demzufolge auch nicht in dem Verhältnis der beiden Ländern zueinander.        
    
                  
  Verwandliung, Thalia
  Doch genau in diesem intensiven Eintauchen liegt die Hoffnung. Die zweite Generation hat so viel Vertrauen in die Zuhörenden, dass sie sich öffnet. Sie erzählt endlich ihre Geschichten und die Zuschauer:innen hören zu. So erst kann Verständnis entstehen. Und dies ist von einer Dringlichkeit, die nicht erst deutlich wird, wenn der Bundeskanzler die Verbesserung des Stadtbildes mit Abschiebungen in Verbindung bringt. Diese Unbedingtheit ist dem Spiel der Ensemblemitglieder in jedem Moment anzumerken. Man spürt, dass sie genau wissen, wovon sie sprechen. Das ist ein neuer Ton, der hier im Thalia Theater angeschlagen wird. Wenn das Theater ein offener vielfältiger Diskursraum sein soll, dann ist er dringend geboten. (Copyright: Krafft Angerer)        
    
                  
  Carbon Negative, Lichthof
  Was also jetzt tun, um die Klimabilanz des Abends noch zu retten? Kein Problem, Kunze und Otto haben noch andere Ideen in petto. Schließlich hatte der Schweizer Unternehmer den Weg schon vorgezeichnet. Der erste Vorschlag ist makaber. Vielleicht einfach Climat Suizid verüben? Das wäre wohl die effektivste Variante der dauerhaften Einsparung von CO2. Aber es geht auch weniger radikal. Eventuell in Deutschland einen Solarkocher anschaffen und damit mindestens 30 mal im Jahr statt mit Kohle grillen? Oder vielleicht auf die nächste Urlaubsreise mit dem Flieger verzichten? Oder auf den Fleischkonsum? Vertragsformulare hat das Team schon vorbereitet mitgebracht. Der Andrang auf der Bühne war nach der Aufführung groß. Das lag sicher nicht nur am Bierkasten, der auf der Bühne bereit gestellt wurde. Der war ein Vorschlag des Kenianers Ogada. Als Kunze ihn nach seinem Kompensationsvorschlag fragte, sagte der nur: Trinkt einfach zusammen ein Bier!  (Foto: Lea Dietrich)        
    
                  
  Dantons Tod, EDT
  Mayr gibt den Kontrahenten viel Raum zur Gegenüberstellung ihrer Haltungen und verzichtet darauf, das diskursive Stück mit aktionsgeladener Ideen aufzupeppen. Sie konzentriert die Aufmerksamkeit auf die Inhalte. Wer sich darauf einlassen mag, erlebt ein spannendes Stück über Macht, Ideologie und Manipulierbarkeit und darf sich überraschen lassen, wie modern Büchner immer noch ist. Zum Schluss stehen alle wieder da und sprechen ihren Text vom Beginn noch einmal. Doch jetzt nicht mehr in einer Reihe vor dem geschlossenen Samtvorhang, sondern vereinzelt und verteilt über die ganze Bühne.  "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?" Dann ein lauter Knall, das schwarze Loch auf der Bühne hat sich geschlossen. Die Visionen Dantons und Camilles sind der Guillotine zum Opfer gefallen. (Foto: Sinje Hasheider)        
    
                  
  The sun is burning, Kampnagel
  Die mexikanische Choreografin Yolanda Morales erzeugt hier mit ihrem exzellenten, ausdrucksstarken Performerteam eine obsessive, dystopische und orgiastische Atmosphäre, die ihre Geheimnisse bis zum Schluss nicht preisgibt. Ganz versteht man die Geschichten, die hier auf der Bühne erzählt werden, nicht. Eine Lücke zwischen dem kulturellen Wissen der Abya Yala, deren mythologische Erzählungen diesem Abend zugrunde lagen, und dem der Zuschauenden bleibt. Dennoch versteht man eines sofort: Wir leben in unsicheren Zeiten und wir arbeiten an unserem eigenen Ende. Eine Aufforderung zum Tanzen für die Zeit bis dahin scheint da eine gute Empfehlung. (Foto G2Baraniak)        
    
                  
  Auf Krieg gebaut, Fleetstreet Residency
  Da uns die aktuelle Weltlage den Krieg wieder nach Europa gebracht hat, wollten Franziska Jakobi, Lena Carle und Matti Mühlschlegel in ihrer einmonatigen Residenz in der Fleetstreet untersuchen, wie viele Schichten Krieg unter der Stadtgeschichte Hamburgs verborgen sind. Dafür reicht ihre Recherche sehr weit in die Vergangenheit zurück. Matti Mühlschlegel hat Mühe mit dem kabelgebundenen Tablet ganz bis ans Ende der an die Wand gehängten Zettelreihe zu kommen. Von der ersten Besiedelung über die Gründung der Hammaburg, die Blütezeit als Hansestadt bis hin zur Positionierung im Zweiten Weltkrieg; die vielfältigen Verstrickungen Hamburgs in die Weltpolitik werden in kurzen Schlaglichtern beleuchtet.        
    
                  
  Das Paradies und die Peri, Staatsoper
  Vera-Lotte Boecker ist in jeder Hinsicht grandios in der Rolle der Peri. Sie verkörpert den gefallenen Engel, der sich auf die Suche nach dem Menschlichen in einer unmenschlichen Welt macht, mit einer solchen Unbedingtheit, die sich in jeder ihrer Bewegungen, in ihrem Spiel und in ihrem Gesang ausdrückt, dass man den Blick nicht von ihr lassen. Sie ist das Herzstück dieser Inszenierung, in der aber auch alles andere stimmt. Die Chormitglieder brillieren als aufgebrachte Bürger:innen wie als stromlinienförmiger Kirchenchor, der Countertenor Ivan Borodulin als eindrucksvoller Wächterengel, der Tenor Kai Kluge als mitfühlender Erzähler und die Mezzosopranistin Annika Schlicht als berührende Braut, um nur einige zu nennen. Das Bühnenbild, die Kostüme und der Kameraeinsatz, alles fügt sich zu einem intelligenten, hintergründigen und gewitzten Abend, dem eine Meta-Ebene nicht reicht, um nicht noch eine weitere hinzu zu fügen. Langanhaltender Applaus mit entzückten lauten Bravos waren der Dank des Publikums am Ende des fulminanten Abends. So verliert Oper jeden Anstrich von Angestaubtheit und kann generationsübergreifend begeistern. (Foto: Monika Rittershaus)        
    
                  
  Arendt, Thalia
  Das Thalia Theater zeigt mit diesem Well-Made-Play einen Hannah Arendt-Abend to go. Er bietet einen klugen Mix aus Unterhaltung und Tiefgang, der auch die im Publikum mitnimmt, die sich bisher mit den Überlegungen von Hannah Arendt nicht vertraut gemacht haben. Im besten Fall macht er Lust auf einen tieferen Einstieg und im zweitbesten zeigt er, dass die ideologische Spaltung einer Gesellschaft stets die wahrhaften Erkenntnisse blockiert, auch wenn die Diskursivität viele überfordert. Doch die unbedingte, unerschrockene Hannah Arendt setzte sich stets gegen eingefahrene Denkstrukturen und für offene Analysen ein. Auch mit dem Risiko, dass sie am Ende kleinlaut zugeben muss: „Ich weiß auch genau warum, doch jetzt fällt's mir nicht mehr ein.“ Eine große Denkerin am Ende ihrer Weisheit. Ohne jede Maske. Doch wie sollte es anders sein angesichts der Schrecknisse, die sie im Laufe ihres Lebens erfahren musste? (Foto: Katrin Ribbe)        
    
                  
  Zarah 47 - Das totale Lied
  Laubach interpretiert die Lieder ganz bewusst auf ihre eigene Weise. Nur manchmal bei den nachgeahmten Dialogen mit den Männern, denen sie im Laufe des Stücks begegnet, zeigt sie, dass sie das R wie die Leander rollen kann. So erlebt man die Lieder so zart, verletzlich und facettenreich, wie die Leander sie sie sich selten in der Öffentlichkeit erlaubte. Wie Laubach diesen Balanceakt sowohl musikalisch wie darstellerisch hinbekommt, ist eine grandiose Leistung und macht diesen Abend absolut sehenswert. (Foto: Patrick Bieber)        
    
                  
  K(no)w Black Heroes, Thalia in der Gaußstraße
  Diese Arbeit ist klar dem Empowerment der Black Community gewidmet. Sie gipfelt in der letzten Szene, in der die beiden Frauen in Dauerschleife beteuern, dass sie weder auf ihr Deutschsein noch auf ihr Afrikanischsein verzichten werden, egal was die Umwelt davon hält. Die Botschaft kam auch im Hamburger Premierenpublikum sehr gut an: Standing Ovations und jubelnder Applaus beendete den gut einstündigen Abend.  (Foto: Isabel Machado Rios)