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Sollen sie doch Chaos fressen, Monsun

Sollen sie doch Chaos fressen, Monsuntheater

(Foto: G2Baraniak)

Ruhelos in unruhgien Zeiten

Jeder Zuschauer, jede Zuschauerin wird einzeln empfangen und nach oben begleitet. Auf dem Weg durchs Treppenhaus wird man nach seinen schönsten Träumen befragt. Erst nachdem man sich in dem Spiegel auf der Bühne direkt „in die Seele“ geschaut hat, darf man sich einen Platz suchen. Auf der Bühne liegen Kleidungsstücke verstreut und eine Tänzerin wälzt sich ruhelos hin und her. Es ist 4:18 in der Nacht und die Bewohner eines Hauses liegen wach. Sie können nicht schlafen. Wie Schatten ihrer selbst sind sie hinter der Gazewand, die einmal rund um die Bühne gespannt ist, zu erahnen. Während Lara Hüsges noch von den Fragen, den Ängsten und Sehnsüchten der Schlaflosen singt, treten sie einzeln durch einen Spalt auf die Bühne. Vereinzelt rucken und zucken sie über die Bühne, alle nur in hautfarbener Unterwäsche. Das sind starke Anfangs-Bilder, die zusammen mit der schön-sperrigen Musik aus Klavier und Gesang (Komposition: Shadi Kassaee, Yijie Wang) unmittelbar in die Atmosphäre von ruhelosen Nächten, in denen die Probleme riesengroß zu werden scheinen, eintauchen lassen.

Francoise Hüsges hat zur Feier des 45-jährigen Jubiläums des Monsuntheaters und ihrer eigenen 10-jährigen Intendanz geklotzt: Sie holt viele Verbündete ihres Theaters auf die Bühne und setzt ein klares Statement für Inklusion und Vielfalt: Zusammen mit SZENE 2WEI und dem Tanz∞Forever-Ensemble hat sie sich das Langgedicht von Kae Tempest „Sollen sie doch Chaos fressen“ vorgenommen. Es scheint ein überaus passender Stoff für die chaotischen Zustände unserer heutigen Zeit der multiplen Krisen zu sein, in der es mehr als einen Grund gibt, um sich schlaflos durch die Nächte zu wälzen. Der Sturm, der in Tempests Gedicht später in der Nacht durch die Stadt fegt, wird in Hüsges Inszenierung eindrucksvoll durch die Perkussionistin Lin Chen entfacht. In der Mitte der Bühne treibt sie die Tänzer:innen mit ihren Trommelschlägen über die Bühne. Mal von der einen Ecke in die andere, mal auf den Boden und dann wie Blätter zu einem Haufen zusammen. Doch Ruhe finden sie nirgendwo. Jede Position ist nur eine kurzfristige, schnell folgt die nächste Sturmbö. Dazu sind sie mittlerweile alle in schwarze transparente Kleider gehüllt. Wie Nachtgespenster, die durch die Dunkelheit getrieben werden. Eine Stimme aus dem Off zitiert einzelne Passagen aus Tempests Gedicht und gibt Hinweise auf die Seelenzustände der Schlaflosen.

Zum Schluss ist der Sturm vorüber, sind die Trommeln fortgeschoben und die Bühne ist dunkel. Da hört man die eigentlich ersten Zeilen des Gedichts: „Denk dir ein Vakuum, eine endlose reglose Schwärze – Frieden – oder das Fehlen, zumindest, von Grauen.“ Doch dann leuchten in dieser Schwärze einzelne Sterne auf. Hier im Monsuntheater sind das die Kopfhörer der Tänzer:innen, die sie zu einer Musik tanzen lassen, die das Publikum nicht hören kann. So finden sie einzeln und doch gemeinsam zu einem Moment der Entspannung, der Harmonie und des Friedens. Oder ist es nur das momentane Fehlen der Schrecken, die sie die ganze Nacht umgetrieben haben?

In Hüsges Umsetzung, zu der William Sánchez H. die Choreographie erschaffen hat, bleibt die Hoffnung auf Gemeinschaft in unsicheren Zeiten, die Tempest in ihrem Gedicht andeutet, eine vage, zufällige und fragile. Sie ist gefährdet und bedarf des stetigen Engagements aller, um der Vereinzelung entgegenzuwirken. Es ist ein anspruchsvoller Abend geworden, an dem viele Elemente zusammenkamen. Die gesprochenen rätselhaften Texte, die innovativen Kompositionen, der vereinnahmende Gesang, die beiden Tanzensembles mit Laien und Profis, die kraftvolle Percussion und eine Choreographie, die Menschen wie zufällig durch die Nacht trieb. Viele Eindrücke bleiben am Ende. So wurde diese Arbeit auch zu einem Sinnbild für eine zerstückelte Welt aus vielen einzelnen Personen, Problemen und Fragen, die sich einer Gesamtantwort versperren.

Birgit Schmalmack vom 15.11.25

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