Das Heimatdefekt
Nein, er habe nicht aus Versehen den falschen Artikel gebraucht, versichert Clemens Sienknecht, als er mit akkuraten Seitenscheitel und biederem beigen Anzug an der Rampe steht und über „das Heimatdefekt“ referiert. Es gehe um den veränderten Blick auf scheinbar Altbekanntes. „Wo stehen wir und wer sind die anderen?“, das seien die Fragen, die heute erörtert werden müssten. Als der Eiserne Vorhang quietschend in die Höhe fährt, erklingen zunächst wohl tönende Heimatlieder, doch bald fährt der E-Cellist Martin Schütz mit lärmendem Störgewitter in die kuschelige Wohlfühlatmsphäre. Denn die Geschichten, die die Chormitglieder nacheinander vortragen, zeugen von der zerstörerischen Kraft der Heimatliebe. Sie sind entnommen aus Karl Jaspers Doktorarbeit von 1909, der darin die Verbrechen Schweizer Kindermädchen schildert, die seiner These nach aus Heimweh zu Kindsmörderinnen geworden sind. Ergänzt werden die Erzählungen mit Beiträge von Alexander Kluge, Malte Ubenauf, Elias Canetti, Silvia Plath u.a. zu Heimat und Verbrechen. Heimattümelnd und rückwärtsgewandt ist das Ambiente, in das Regisseur Christoph Marthaler diese Collage stellt. Der Nachbau des kahlen Backstein-Foyers der Auswandererhalle auf der Veddel mit Sinnsprüchen an den Wänden, dunkel verglasten Schwingtüren, wenigen Oberlichtern und einfachen Sitzbänken hat die Bühnenbildnerin Anna Viehbrock als perfekte Kulisse für die Verlorenheit der Einzelschicksale eingerichtet. Interaktion findet weder mit dem Publikum noch untereinander statt. Jede Verbundenheit mit ihren Mitmenschen ist diesen traumatisierten, zu Erwachsenen herangewachsenen Kindern genommen worden. Doch was sollen uns diese Geschichten von damals heute noch erzählen? In einer globalisierten Welt ist die internationale Einsetzbarkeit und Flexibilität der Arbeitnehmer zu einem Wert erhoben worden, in dem Heimat keine Rolle mehr zu spielen hat. Das gerade erfolgte Votum der Schweizer gegen die „Masseneinwanderung“ von EU-Ausländern zeigt, dass dagegen die altbewährte Heimatliebe immer wieder aufzubegehren versucht. Leider bleibt Marthalers Abend zu sehr im atmosphärisch Vagen und Musealen, um zu tiefer gehenden Überlegungen zu diesen aktuellen Entwicklungen anzuregen. So kann er zwar im besten Marthalerschen Sinne ein dichtes Gefüge aus Melancholien, Neurosen, Psychosen und Abseitigkeiten ausstellen, bleibt aber in dieser Rückwärtsgewandtheit stecken und wagt sich nicht in das Gebiet der aktuellen Bezüge zur heutigen Realität vor. Marthaler stellt seine Bühneninstallationen wie belebte Bilder in einem Museum aus. Doch das Theater sollte mehr sein als ein Insektarium, in dem die Vergangenheit abgebildet wird. Marthaler scheint das bewusst gewesen zu sein - nicht umsonst ließ er Sienknecht zu Beginn mit seinen Vorbemerkungen an die Rampe treten. Ob sein Abend „Heimweh und Verbrechen“ zu neuen Erkenntnissen zum eigenen Standpunkt und Verhältnis zum Fremden beitragen kann, bleibt aber fraglich. Birgit Schmalmack vom 24.2.14
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