Gift, Deutsches Theater
Schnörkelloses Kammerspiel
Nach zehn Jahren treffen sich die beiden Ex-Ehepartner zum ersten Mal wieder. Zum Millenniumswechsel hatte der Mann (Ulrich Matthes) seine Frau (Dagmar Manzel) verlassen. Knapp ein Jahr davor war ihr gemeinsames einziges Kind bei einem Autounfall gestorben. Wie geht ein Elternpaar mit dem Tod ihres Kindes um? Gibt es ein Leben danach? Ist so etwas wie Glück wieder möglich? Ihre Antworten sahen so unterschiedlich aus, dass sie zuerst ihr Kind, dann sich selbst und schließlich einander verlieren.
Die Mutter hat ihren Hoffnung auf einen möglichen Neuanfang längst begraben. Sie funktioniert in ihrem Alltag. Denn sie war nicht nur süchtig nach Schokolade und Schlaftabletten sondern nach dem Gefühl des Leidens. Nur diese Trauer verbindet sie noch mit ihrem Sohn, sie kann nicht auf diese verzichten. Der Moment, in dem sie ihn nach seinem Autounfall auf der Intensivstation noch einmal in den Armen halten konnte, war für sei der letzte perfekte Moment in ihrem Leben. Sie lebt in dem Gefühl, dass wenn sie ihr Leiden aufgeben würde, sie auch ihren letzten Faden zu ihrem Kind kappen würde. Ihrem Ex-Mann wirft sie genau diesen „Verrat“ vor. Denn dieser ist einen anderen Weg gegangen. Er konnte in ihrer Dauertrauer keinen Sinn sehen und schloss an dem ersten Silvester nach dem Unfall die Tür hinter ihrem gemeinsamen Leben endgültig zu. Er wählte den Weg in ein neues Leben. Er kehrte seinem alten den Rücken, nicht wissend ob er die Erinnerungen abschütteln würde können. Er zog von Holland nach Frankreich und fand tatsächlich eine neue Partnerin, mit der er jetzt ein Kind erwartet.
In dem kargen Friedhofsgebäude begegnen sie sich nun erstmals wieder, angeblich weil das Grab ihres Sohnes wegen des vergifteten Bodens umgebettet werden muss. Dass dies nur eine Finte der Ehefrau ist, begreift der Mann erst allmählich. Doch ihre Hoffnung auf eine Annäherung erfüllt sich nicht. Schnell geraten sie wieder in ihre alten Rollenmuster. Vorwürfe werden mit Gegenvorwürfen pariert. Die Frau bricht in Tränen aus, der Mann fühlt sich zu kleinen Zeichen des Trostes genötigt, die sie empört zurückweist. Noch immer finden sie zu keinen gemeinsamen Formen der Erinnerung und der Verarbeitung. „Ich verstehe dich nicht!“ können sie gegenseitig bestätigen. Erst als der Mann begreift, dass das Treffen von der Frau inszeniert worden ist, erkennt er ihre Not und geht einen Schritt auf sie zu.
Bei Rotwein und Käse reden sie miteinander. Sie hören sich zu. Sie denken sich in die Sichtweise des anderen ein. Der Mann nimmt seine Ex-Frau in den Arm und singt ihr zum Trost ein Lied, das ihn einst selbst getröstet hat: „It must be so“. So schließt diese Begegnung zwar nicht mit einem „Strich unter die Vergangenheit ziehen“, wie der Mann es sich erwünscht hatte, aber mit einem „So war es“, das nichts verändert, nichts beschönigt und mit nichts versöhnt, aber trotzdem den Blickwinkel verschiebt.
Das kluge Stück von Lot Vekemans nimmt gefangen. Ganz unspektakulär zeigt es gelebtes Leben in Echtzeit. Dem hat die Regie nichts hinzufügen, Regisseur Christian Schwochow gibt ihm nur den Raum. Diese Inszenierung vom deutschen Theater wird sicher nicht wegen des Einfallsreichtums der Regie zum Hamburger Theaterfestival eingeladen worden sein. Eher für die beeindruckende schauspielerische Leistung und den Beweis, dass es auch in Zeiten der Postdramatik noch schnörkelloses, intensives Dialog- und Zuhörtheater gibt.
Birgit Schmalmack vom 13.11.14