Werther, Opernloft
Blick in die Seele
Was treibt einen Menschen in den Tod? Was lässt einen anderen sein Leben an der Stelle fristen, an den es ihn gestellt hat? Diese Fragen stellt sich Sophie (Ines Vinkelau) angesichts der Ereignisse in ihrer Familie. Sie studiert mittlerweile Psychologie und will verstehen.
Werther (Ljuban Zivanovic) hatte sich einst in ihre große Schwester Charlotte (Caitlin Redding) verliebt, doch die war mit einem anderen verlobt. Charlotte verdrängt ihre aufkeimenden Gefühle für Werther und geht die Vernunftsehe mit Albert (Stepan Karelin) ein. Während sie still und heimlich um ihren Verlust in sehnsuchtsvoller Erinnerung trauert, stürzt er sich in den Tod.
In der Inszenierung von Jules Massenets Oper "Werther" durch Anke Rauthmann im Opernloft bildet die Recherche von Sophie die Klammer für die Geschehnisse der Oper. So kommentiert Sophie den Verlauf immer wieder kurz mit gesprochenem Text.
Auf der Bühne befinden sich nicht nur der Salon der Familie sondern auch Teile eines altertümlichen Bauwerkes. Und im Zuschauerraum liegen Felsen, die die Spitze eines Bergmassives darstellen könnten. So sind neben realen Gegenstände auch Symbole zu sehen, die in die Seele der Protagonisten eintauchen lassen. Im Gegensatz zu Goethes Vorlage spitzt sich der dramatische Höhepunkt ausgerechnet zu dem Freuden- und Familienfest der Weihnacht zu. Ausgerechnet am Heilig Abend nimmt Werther die Tabletten, die zu seinem Tode führen sollen, und ausgerechnet kurz vor der Bescherung versucht Charlotte ihn zu retten und kann doch nur noch seine Leiche bergen.
Eine perfekte Grundlage für die vielen gefühlvollen Arien, die auf der Bühne erklingen. Nachdem im ersten Teil die einzelnen Teilstränge des Dramas noch lose nebeneinander gelegt wurden, werden sie im zweiten Teil zusammengeführt. In der Kürze von neunzig Minuten die Oper musikalisch (unter der Leitung von Makiko Eguchi) umfassend zur Geltung zu bringen und eine intensive Beschäftigung mit den psychologischen Beweggründen zu leisten, ist eine Herausforderung, die am Ende als gelungen bezeichnet werden kann. Der Blick in die Seele, die die Musik von Massenet erlaubt, wird durch die wunderbaren Sänger der Hauptrollen Charlotte, Sophie und Werther erfüllt. Wenn zum Schluss Sophie noch ihr Resümee zieht, das bei einem Selbstmord immer alle aus dem Umfeld Täter seien, ist auch noch der Blick über den Tellerrand geschafft. Dass das Opernloft nach vielen Aufführungen auch noch Gesprächsrunden mit Betroffenenverbänden organisiert hat, zeugt von der gesellschaftlichen Verantwortung, die die Kultur übernimmt.
Buirgit Schmalmack vom 7.6.19