Wahnsinn aus Heimweh, Monsun

Wahsinn aus Heimweh Foto:Cora Sachs

Fahrt in die Irre

Sie wollten ihr Glück machen. In der neuen Welt wollten sie ihr Auskommen suchen, um dem Elend in ihren Herkunftsländern zu entkommen. Doch für einige von ihnen scheiterte dieses Ansinnen kläglich. Sie wurden von den amerikanischen Einwanderungsbehörden als „geisteskrank“ abgewiesen und bei ihren Rückkehr in die Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg eingeliefert.
Die Zuschauer drängen sich in die hölzernen Reihen des engen Hörsaals. Der Doktor betritt den Raum. Er berichtet über die ungewöhnlichen Patienten, die er neuerdings in vermehrten Anzahl in seiner "Irrenanstalt" aufnehmen muss. Aufgrund der verschärften Einwanderungsbestimmungen der USA ab 1907 werden sie mit dem Stempel "Insane" auf Ellis Island aussortiert. Doch so sehr sich auch Doktor Wilhelm (Pablo Konrad y Ruopp) und seine Mitarbeiter in der Anstalt Friedrichsberg auch bemühen, eine vernünftige Diagnose zu stellen, werden sie den Rückwanderern selten gerecht. Da viele von ihnen ausländische Staatsbürger sind, fällt die Verständigung schwer. Oft müssen Angestellte oder Mitpatienten übersetzen, was nicht selten zu merkwürdigen Fehleinschätzungen führt. Oft, so vermutet der Doktor, habe sie auch nur eine Heimweh- oder Fluchtkrankheit befallen.
Im Pathologiesaal zwischen den marmornen Seziertischen dürfen die Zuschauer danach einige der Patienten, die in ihren Akten als "Rückwanderer" gekennzeichnet sind, und deren Behandlung durch Doktor Wilhelm begutachten. In gebrochenem Deutsch, auf Jiddisch, Polnisch, Schweizerdeutsch, Berlinerisch oder Französisch berichten sie von ihrer Wanderung zwischen den Welten. Von ihren Versuchen in ihrem Heimatland Fuß zu fassen, von ihrem Wunsch in Amerika ein neues Leben anzufangen und von ihrer Ausmusterung auf Ellis Island. Joseph (Benjamin Lew-Klon), der bei der Einreise von seiner Familie getrennt wurde. Katharina (Alina Manoukian), die mit ihrem unehelichen Kind in der moralischen Enge des Kaiserreichs keinen Platz fand. Adele (Lisa Tschanz), die vor ihrer Vergangenheit aus der Schweiz geflohen war. Carl (Milena Straube), der sich nach einer traurigen Kindheit mit kleinen Gaunereien über Wasser hielt.
Sie alle wandern zwischen den Tischen hin und her wie zwischen ihren möglichen, alten und neuen Aufenthaltsorten. Heimatlos sind sie, verwirrt, unbehaust, vereinsamt und traurig erscheinen sie. Ihr diagnostiziert Heimatlosigkeit.
Mit-Regisseurin Cora Sachs hat den Darstellern wahnsinnig ausdrucksstarke Masken gestaltet, die sie noch weiter in die Ferne rücken. Wie Autisten mit nur einem Gesichtsausdruck bleiben sie in ihren Welt gefangen. Doch ihre Körpersprache spricht für sich. Die zappelige Berliner Schnauze Carl, der keine Minute still stehen kann. Die schüchterne Adele, die ihre schmale Gestalt einfaltet und ihre Füße stets x-förmig stellt. die lebensgierige Katharina, die sich immer wieder über ihre Hüften streicht und mit kleinen Trippelschritten auf sich aufmerksam macht. Der depressive Joseph, der bei jeder Frage zusammenzuckt und sich wegduckt, sobald sich ihm jemand nähert. Der Doktor, der betont aufrecht geht und ab und zu mit den Hacken knallt, um sich seiner Autorität zu vergewissern.
Die Zuschauer werden mit dem Verständigungsproblem hautnah konfrontiert, denn die Darsteller sprechen in ihrem Dialekt, mit zaghafter Stimme und durch die Masken noch zusätzlich verzerrt. Zwar wird eine Transkription an die Rückwand geworfen, doch sie ist nicht von allen Plätzen aus gleich gut zu lesen.
Die Autorin Anne Rietschel und das Regieteam aus Cora Sachs und Anton Kurt Krause haben die Schicksale dieser Rückwanderer in ihren Krankenakten, die noch heute im Archiv des Universitätsklinikums Hamburg lagern, ausführlich recherchiert. Sie haben daraus ein Stück im Medizinhistorischen Museum in Szene gesetzt, das Dokumentarisches und Fiktionales mischt. Was wie ein Ausstellungsbesuch mit Schautafeln und Vitrinen beginnt, im Hörsaal eine inszenierte Vorlesung von Wilhelm Weygandt, dem ehemaligen Leiter der Anstalt Friedrichsberg, folgen lässt, mündet in Spielsituationen zwischen dem Doktor und den Patienten im Seziersaal. Ein beklemmendes Stück über die Folgen von Migrationsbewegungen zwischen den Kontinenten, das durchaus Parallelen zu heutigen Entwicklungen erlaubt.
Birgit Schmalmack vom 3.12.18

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