Zur Kritik von
Abendblatt |
ndr (Interview) |
Tragédie
Unverkleidetes Sein
Der Herzschlag pocht mit prägnantem Trommelschlag. Über 30 Minuten wird es neben den schreitenden Füßen der 18 Tänzer das einzige Geräusch bleiben. Im Gleichschritt wie Armeeangehörige bewegen sie sich über die leere Bühne. Nur ihre Schreit-Formationen werden sich leicht verändern. Ihre Uniform ist nur ihre Haut. Und die verweist gerade auf die Unterschiede statt sie zu kaschieren. Eine einzelne Tänzerin, die nicht die durchtrainierte Statur ihrer Kollegen hat, sticht besonders heraus. Diese lange Exposition der Demonstration von Ordnung und Gleichförmigkeit lässt wahlweise Langeweile oder meditative Ruhe aufkommen.
Doch dann ist Revolution angesagt. Die Zeit der Einpassung ist vorbei. Die Tänzer erobern sich schrittweise ihren Anspruch auf Individualität zurück. Zunächst mit zögerlichen, verkrampften, zuckenden Bewegungen beim Schreiten, dann mit immer raumgreifenden Ausbrüchen. Einen ersten Höhepunkt finden sie in einer Massen-Tanzekstase. Mittlerweise hat sich die Musik zu einer rhythmischen Technotapete aufgepeitscht und heizt den Tänzern zusätzlich ein, bis sie zu einem engen Pulk fast verschmelzen. Aber das ist nur die Vorstufe zu nächsten paarweisen Annäherung. Mit ganz eindeutigen Bewegungen treiben die Nackten sich nun gegenseitig zu weiteren Höhepunkten. So direkt hat wohl noch nie ein Choreograph die Triebe der Menschen in Szene gesetzt. Doch er demonstriert auch, wohin die Auslebung der Extreme führt. Der letzte Teil von „Tragédie“ zeigt sie deutlich. Durch die aufgepeitschte Euphorie zu keiner vernunftgesteuerten Überlegung nicht mehr fähig, zeigen die Tänzer zu einem schwer erträglichen Lärmteppich Formen des Ausrastens. Sie rennen kopflos umher und stürzen sich schließlich vor Erschöpfung auf den Boden. Nach dem Aufrappeln treten sie ernüchternd einzeln ab.
Dem Sog der Arbeit von Olivier Dubois kann sich kaum jemand entziehen, wenn man die lange Expositionssequenz durchgehalten hat. Ihr kluger, hypnotisierender Aufbau zieht in eine Gedanken-, Klang- und Bilderwelt hinein, die noch lange nachwirkt. Sie demonstriert die unterschiedlichen Ausprägungen des Menschseins, seiner Möglichkeiten und seiner Einschränkungen, wenn er ganz zurückgeworfen ist auf sein unverkleidetes natürliches Sein.
Birgit Schmalmack vom 10.8.13