Ritournelle, Kampnagel
Die Unsicherheit genießen
Die sechs Performer*innen tragen in der K1 die Klappstühle auf die Bühne, suchen sich unsicher einen Platz, positionieren sich wieder neu, vereinzelt mit gleich weiten Abstand zueinander. Einer von ihnen klagt: "Ein zerbrechliches Ding bin ich, aus Mensch gemacht." Noch spricht er die Worte, doch dann fängt er an, zarte Töne einfließen zu lassen. Als die anderen einfallen, ist es als wenn sie Klänge über das Meer senden, auf der Suche nach Widerhall. Durch ihren gemeinsamen Gesang formen sie eine Gemeinschaft, die in ihrem Wohlklang kurzfristig Aufgehobensein spenden kann. Noch sitzen sie weit entfernt voneinander, doch die Musik verbindet sie schon: Singen als Form der Kommunikation und der Verortung.
Für die neue Arbeit "Ritournelle", beruhend auf Monteverdis Oper "Heimkehr des Odysseus ins Vaterland", mit der Benjamin van Bebber am 10.4.19 auf Kampnagel Premiere feierte, suchte er sich Künstler*innen, die aus anderen Professionen auf die Musik blicken. Er wählte bewusst ein Team, in dem die Nicht-Profi-Sänger überwiegen.
Die Musik kommt als gesungenes Original zur Geltung, wird aber auch durch Leo Hofmanns elektronische Bearbeitung so angereichert, dass die Wellen rauschen, der Sturm bläst oder die Töne wie Funksignale durch den Raum flirren. Unter Monteverdis Musik werden immer weitere Schichten gelegt, um die barocken Klänge so zu öffnen, dass sie zu Forschungsräumen werden können. Dabei wird die Musik zum Kommunikationsmittel, das dem Ensemble den Ausdruck von Unsicherheit, Fragen, Trauer, Verlustängsten, Zukunftshoffnungen, Einsamkeit und Liebe erlaubt.
Der "Freudengesang des Odysseus" wird zu einer Hymne auf das plötzliche eintretende Glück, das mit Fußstampfen, Klatschen und Hochreißen der Arme wie auf einem Fußballplatz gefeiert wird. Während der "Klage des Iro" finden sich die anderen in einer Familienszene zusammen. Auf dem plötzlich ausgebreiteten Teppich plaudern sie zwanglos über Alltäglichkeiten, die sie viel mehr interessieren als Iros Trauer. Iro bleibt draußen vor, während die anderen sich kurz zu Hause fühlen dürfen. Auch ein Spiel wie die "Reise nach Jerusalem" wird kurzerhand mit den Klappstühlen inszeniert, während eine Arie gesungen wird, die immer wieder abbricht, wenn die Plätze gesucht werden sollen.
In "Ritournelle" sollen Entwürfe für ein sesshaftes Leben erkundet werden. Die Ensemblemitglieder sind auf der Suche nach ihrem eigenen Platz im Team und im Raum. Sie erfahren die Freiräume, die sich dabei auftun, erspüren das Trennende, finden das Gemeinsame heraus, genießen das kurzfristige Einverständnis auf Grundlage der Musik und versuchen die Reibung als Chance zu begreifen.
Die Textpassagen von Sara Ahmed, Massumi und Baduero, die nach dem letzten verklungenen Ton auf die Rückwand projiziert werden, sind wie ein Kommentar auf das Gesehene und Erlebte. "You have changed...I am not adjusted to the world... The unfolding of the bodies into the world... Yes, yes, yes life" Dem Zufall Raum geben. Die Unordnung erfahrbar machen. Ein Ja zur Entfaltung von Körpern und Stimmen in die Welt erfahren. Es gilt die Unsicherheit zu genießen, um aus ihr heraus neue Erfahrungen zu generieren. Das Ringen um dieses Ankommen in der gemeinsam erschaffenen Musik, mag es auch noch so vorläufig sein, ist die Motivation, der Weg dahin das Ziel.
Birgit Schmalmack vom 2.5.19