Hauptsache Frei, 2019
Sonntag:
Begegnung auf Augenhöhe?
Zwei Künstler sollen sich begegnen und ihren Dialog gestalten. Das ist das Motto von "Eins zu Eins". Einer der Künstler stammt aus der Gruppe "Meine Damen und Herren", der andere aus der freien Szene. Wie vor einem Sportmatch sitzen sie zunächst auf den Wartebänkchen am Rand der Bühne. In lockerer Leinenkleidung, im Sportdress oder im Schwimmanzug, so treten sie sich gegenüber. Astrid Endruweit und Thomas Möller kugeln über- und untereinander und Tanzen zum Schluss zusammen einen Walzer zu Schlagermusik. Dabei gibt Endruweit eindeutig den Ton an. Nur als sie gemeinsam Rücken an Rücken anfangen zu singen, wird klar, wer eigentlich der stimmkräftige von beiden ist.
Mehr auf Augenhöhe begegnen sich Cornelia Dörr und Friederike Jaglitz. Zum Schlagabtausch wird ihre Begegnung. Das wird nicht erst klar, als sie sich zum Schluss wie zwei Ringkämpferinnen gegenseitig misstrauisch mustern und zum nächsten verbalen Schlag ausholen. Zuerst ist Begutachtung der äußeren Merkmale der Gegnerin angesagt. Ob die fehlende Brüste von Cormelia oder die großen Zehen von Friederike, alles wird kommentiert. Danach schickt man sich gegenseitig in schweißtreibende Übungen und kommentiert die Misserfolge der Anderen penibel genau. Das ist witzig, sprachgewandt und selbstironisch gewürzt. Die beiden schenken sich nichts.
Bei Antje Pfundtner und Michael Schumacher ist dieser Fokus nicht ganz so klar. "Für die 20 Sekunden meines Solos haben wir sehr lange geübt", gibt Antje zu, als sie Michael für ihre Choreografie auf die Bühne schickt und ihn kritisch beäugt. Dafür interviewt er sie mit bohrenden Fragen zu ihrem Werdegang. Den Kniefall vollführt jedoch nur Antje vor Michael. Als er ihn ebenfalls üben will, misslingt er grandios. Dieser Dialog wurde so von Ironie unterwandert, dass zum Schluss nicht mehr klar war, wer hier wen noch ernst nehmen will. Aus diesem "Eins zu Eins" wurden drei sehr unterschiedliche Paarungen eher zu Gegenüberstellungen als zu Begegnungen. Künstlerische Kommunikation gelang nicht in jedem Fall.
Leben im Ausnahmezustand
Ineinander verkeilt stehen sie da. Zwei Körper, die verzweifelt versuchen eine Stellung zu finden, die ihnen Schutz bieten kann und dennoch ahnen, dass ihre Bemühungen vergeblich sein werden. Sie versuchen die Arme umeinander zu legen, den Rumpf einzufalten und möglichst wenig Platz einzunehmen. Die Live-Musiker Benjamin Kövener, Samuel Penderbayne an der E-Gitarre und am Schlagzeug erzeugen Töne von leisen sirrenden Knistern, das an einen Brand erinnert. Langsam lösen die beiden Körper sich aus der Umklammerung, doch nur umso stärker zu zittern, zu krampfen und sich nur zaghaft von der Stelle zu bewegen. Sie vollführen immer die gleichen Bewegungen, in schneller Folge hintereinander. Sie schlagen mit den Armen um sich, streichen über ihre Extremitäten, reißen ihre Arme nach oben, versuchen sich zu lösen und fallen doch wieder in ihre Erstarrung zurück. Nie richten sie sich auf, zu groß wäre die Angriffsfläche, die sie bieten würden. Immer versuchen sie nah am Boden zu bleiben.
Schon in den ersten Minuten von "Balagan Body" (Chaoskörper) wird klar, dass es hier um zwei Menschen in einer Ausnahmesituation von existenzieller Bedrohung handelt. Nichts ist wie gewohnt, auf bewährte Verhaltensmuster kann hier keiner von den Beiden zurückgreifen. Verzweiflung, Todesangst, Ausweglosigkeit spricht aus jeder ihrer Bewegungen.
Das wird auch durch die Musik immer deutlicher. Sie wird lauter und lauter, bedrohlicher, düsterer, dringt mit ihren Bässen durch die Körper der Anwesenden. Dieser Choreografie von Patricia Carolin Mai kann sich keiner entziehen. Mai entwickelte sie zusammen mit dem israelischen Tänzer Eyal Bromberg nach dem Erleben eines Terroranschlages in Tel Aviv. Dazu führte sie zahlreiche Interviews mit Betroffenen, den sie mit dieser Arbeit in einen wortlosen Ausdruck übersetzte. Sie ist nicht nur für die Tänzer anstrengend, sondern auch für die Zuschauer. Sie werden in die Emotionen auf der Bühne hineingesogen, sie werden gezwungen in den Angststrudel einzutauchen. Die Musik lässt ihnen zusammen mit den Bewegungen der Tänzer keine Wahl. Eine extreme Erfahrung mit allen Sinnen.
Birgit Schmalmack vom 9.4.19
Dienstag:
Eine Expertin des Alltags erklärt
Silke Rudolph hat sich ihr weiße Krankenhauskleidung in der weißen Bühne angelegt. Sie hat ihr geblümtes Kleid ausgezogen und sich für "Verstreute Herde, weiße Flecken und schwarze Löcher" in die Schwester Richmute verwandelt. Denn Schwester Richmute hat eine Mission: Sie will dem Publikum eine weitere ihrer Humanistischen Unterweisungen zukommen lassen. Dieses Mal geht es um die Krankheit Encephalomyelitis disseminata abgekürzt ED, besser bekannt als MS – Multiple Sklerose. Dafür malt sie auf die weiße Rückwand das Schema einer Nervenzelle, an der sie die Störungen bei der Reizübertragung im Körper der Erkrankten erläutert. Dafür hat sie einen Neurologen eingeladen, der das Haus der Gesundheit erklärt. Dafür versorgt sie ihr Publikum mit Sekt und Sauerstoff. Kleine Spielszenen unterbrechen ihren Vortrag. Schwester Richmute berichtet von Störungen der realen Welt und versucht sie einzusortieren und so die Ordnung vermeintlich wieder herzustellen. Silke Rudolph spielt mit der Laienhaftigkeit ihrer Figur. Sie balanciert auf dem Grat zwischen Behauptung und Wirklichkeit. Das ist irritierend und faszinierend zugleich. Man ist als Zuschauer ständig auf der Suche nach dem doppelten Boden dieser Performance und der versteckten Ironie. Doch diese hält Rudolph bis zum Schluss gut verborgen.
Einer Kunstfigur auf der Spur
Ganz anders der zweite Produktion des Dienstags: "Obduktion einer Kunstfigur - Klaus Nomi" von Jens Bluhm und Lena Carle. Den Ausgangspunkt der Musikperformance bildet ein You-Tube-Video, in dem Klaus Nomi in New York den Cold Song interpretiert, eine Arie aus einer Oper von Purcell, das auf der verpixelten Rückwand im Monsun Theater zu sehen ist. Flankiert wird sie von dem Musiker Felix Stachelhaus auf der einen und drei Performerinnen auf der anderen Seite. Verblüffend an Nomis Auftritt ist die Verschränkung Klaus Sperber, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, erschuf sich selbst als Kunstfigur. Mit seinem weiß angemalten Gesicht, seiner starren Körperhaltung und seinen weit ausgerissenen Augen erinnert er an dadaistische Figuren von Schlemmer oder an Personen aus dem Stummfilm Metropolis. Doch ist diese Maskerade nur ein Ausdruck seiner Unsicherheit, wie die Sängerin Meredith Nicoll vermutet? Oder auch das Vorzeichen seiner beginnenden Aids-Erkrankung, die sich mit Beulen und Infekten ankündigt, wie der Text auf der Rückwand andeutet? Die Verschränkung zwischen der Auswahl seiner Musik, seiner bleichen Selbstinszenierung, seiner künstlerischen Vermarktung und seiner tatsächlichen Todesnähe macht die Faszination dieses Künstlers aus. Alle diese Aspekte untersucht das Performance-Team. Dazu simuliert Anna Eger ein amerikanisches You-Tube-Schmink-Video für den perfekten Nomi-Style. Sie re-anacten die Unterhaltungsshow "The, die deutsche Künstler in Amerika auf die Schippe nimmt. Dazu rappt Mona Vojacek Koper die Lebensgeschichte von Klaus Nomi. Sie schicken ihn als Sperber-Vogel in den Weltraum und sie lassen Todespatienten auf You-Tube wortlos zu Nomis Arie ihre letzten Worte in die Kamera sprechen. Ein eindrucksvoller Abend mit vier hervorragenden Darstellern, der zeigte, was Neues Musiktheater kann, wenn es alte Musik auf neue Ausdrucksformen treffen und so die Vielschichtigkeit noch besser erkennen lässt.
Birgit Schmalmack vom 10.4.19
Mittwoch:
Demokratie braucht Verantwortung
https://www.ndr.de/kultur/Lichthof-Theater-Staging-Democracy,democracy102.html
Ist die Demokratie in Gefahr? Was bedeutet es , wenn in immer mehr Saaten Rechte Populisten, starke Männer gewählt werden? Wie ist um die Vernunft des Volkes bestellt? Diese Fragen versucht "Staging Democracy" vom Lichthoftheater mit einer beherzten und informativen Show zu begegnen. Rote und grüne Karten finden sich unter jedem Stuhl. Denn um Mitwirkung ist hier gefragt. Zuerst sollen die Zuschauer befragt. Gehen Sie wählen? Soll dementen Menschen das Wahlrecht entzogen werden? Waren Sie schon mal in einen Politiker verliebt?
Über fünfzig Bürger haben sich beteiligt an den Diskussionsrunden, in denen sie per Losverfahren einem Politikfeld zugeordnet wurden und Lösungen erarbeiten sollten. Nun stehen sie für ihre Abschlusspräsentation auf der Bühne. In neutral weiße Kleidung gehüllt, können sie alle #rollen schlüpfen. Mal schimpfen sie auf die da Oben, mal auf die da Unten. Je nachdem ob sie sich gerade im Haus der Monarchie, der Aristokratie oder der Demokratie befinden. Dann treten sie in einen Wettstreit, wer zu Entschädigung für Dieselautobesitzern eine schnelle und akzeptierte Lösung findet. Der Alleinherrscher, die drei Vertreter des Adels oder die lautstark diskutierenden Demokraten. Sie erklären, wie die Demokratie entstand und erinnern daran, dass die Ämter im alten Athen per Losverfahren ermittelt wurden. Wäre das auch eine Idee für die heutige Gesellschaft?
Die Mehrzahl der grünen Karten im Publikum deutet darauf hin. So ist es nur folgerichtig, dass sich unter jem Stuhl noch eine weitere Karte befindet: Mit einer Aufgabe, die jeder Zuschauer für die Gesellschaft übernehmen soll. Müll sammeln, seine Stimme erheben, um Nachbarn kümmern, sich für etwas engagieren, was ihn nicht betrifft. Ein gelungenes Experiment um die Demokratie näher an die Demokraten zu bringen.
Ohne Tabus
Nebel wabert bei "Blue moon" durch die Luft, schwere Ketten hängen von der Decke, düster ist es, als die Zuschauer den Raum betreten. In einer Ecke ist ein Fellhaufen zu sehen. Unter ihm befinden sich Wesen an der Nahtstelle zwischen Mensch und Wolf. In der neuen Arbeit von Ursina Tossi sind fünf Werwölfinnen zu erleben. Sie zeigen, wozu Frauen fähig sind, wenn sie sich alles Konventionen entledigt haben. Sie kopulieren, sie erleben exzessive Lust, sie erzeugen Schmerzen, sie verbreiten Schrecken, sie verspritzen Blut. Aber sie können auch zärtlich vorsichtig, zart und sehnsüchtig sein. Sie zeigen Emotionen in ihrer ganzen Bandbreite.
Diese Selbstermächtigung der Frauen trägt eindeutig feministische Züge. Sie offenbaren ihre animalische Seite, die Männern zugestanden wird, Frauen aber nicht. Tossi kennt dabei keine Tabus. Die Zuschauer, die auf dem Boden verteilt sitzen, dürfen sich nie sicher fühlen. Es gibt keine Sicherheitsabsperrung zwischen Performerinnen (Rachell Bo Clark, Anca Huma, Sarah Lasaki, Lisa Rykena, Ursina Tossi) und Publikum. Immer wieder rasen die Tänzerinnen direkt auf die Zuschauer zu und stürmen in ihre Reihen. Die Werwölfin ist aggressiv, wütend und hungrig! Doch zum Schluss zeigen sie wieder ihre freundschaftliche Seite. Sie türmen sich mit ihren Pelzmänteln zu einem Fellberg auf und bewegen sich wie ein Körper in Zeitlupe gemeinsam über die Bühne, bis sie direkt unter dem blauen Mond befinden. Doch statt eines Heulens ist ein sadistisches, höhnisches Lachen zu hören. Ein Abend, der auch bei den Zuschauern Emotionen erzeugt, von Scham, Peinlichkeit, Schaudern, Bewunderung und Faszination ist alles dabei. Eine mutige Inszenierung.
Birgit Schmalmack vom 11.4.19