Oratorium, Kampnagel
Flagge zeigen?
"Wir sagen den Text, den jemand anderes für uns vorgesehen hat", muss das Publikum im Laufe des Abends feststellen. Doch nicht einmal das ist ihre eigene Erkenntnis. Auch das lesen sie nur gemeinsam im Chor vom Teleprompter ab. Sieht so Schaffung von Gemeinschaft aus? Das Performance Kollektiv She She Pop stellt sich diese Frage natürlich gleich selbst, bzw. lässt sie durch ihre Stellvertreter im Publikum oder auf der Bühne stellen, wieder mit dem Text, den sie für die jeweiligen Vertreter vorgesehen hat. So stellen sie den vermeintlichen "Alle" die "Mütter ohne festes Einkommen", die "Hartz-4-Empfänger", die "Erben/Erbinnen" oder die "Hausbesitzer" gegenüber. Alle diese bringt She She Pop in einen gespielten "Dialog".
In jeder Stadt suchen sich She She Pop dafür neue Laien, die als Vertreter einer Bevölkerungsgruppe auf die Bühne Stellung beziehen. Die wohlhabende Hamburgerin, der Handwerksmeister, der Erbe, der Flüchtling und die Zugereiste spielen in dieser Performance ihren Part.
In diesem Rahmen wird ein "Oratorium" mit Posaune und Vibraphon aufgeführt. Es wird der "Katechismus des Eigentums" verlesen, die "Fabel von der Entmietung" erzählt und das Gesamtvolumen des Erbes in Hamburg ausgerechnet. Sogar die Theaterwissenschaftler unter den Zuschauer werden mit einbezogen. Denn sie dürften erkannt haben: Hier wird die vierte Wand eingerissen und in der Tradition von Berthold Brecht ein Lehrstück gegeben.
Alle trugen zu Beginn eine Fahne mit großen emphatischen Schwüngen auf die Bühne. Sie wollen Flagge zeigen, doch jeder trägt einzig seine individuelle. Eine gemeinschaftliche Haltung; Fehlanzeige. Wie könnte diese auch aussehen? Für welche Gemeinschaft würde sie stehen? Diese Frage können auch She She Pop an diesem Abend nicht beantworten. Stattdessen enden sie in einem vielstimmigen Gesumme, das sie gemeinsam mit dem Publikum anstimmen. "Fühlt sich das jetzt richtig an?" fragen sie per Teleprompter. Das darf sich jeder beim Rausgehen fragen.
She She Pop ist immer für eine Überraschung gut. Das Performance-Kollektiv, das für seine bisherigen Arbeiten oft in der eigenen Geschichten forschte, ist bekannt für seine klaren Konzepte und dessen spielerische und abwechselungsreiche Umsetzung auf der Bühne,. So streng wie für diesen Abend waren die Abläufe noch nie abgezirkelt. Doch wer sich gleich zwei strenge Formen als Vorlage nimmt - Oratorium und Lehrstück - dem bleibt wenig experimenteller Freiraum. Das merkte man dem Abend an. So ist der Einfall einen konstruierten Dialog mit dem Publikum zu führen zwar innovativ und faszinierend, verliert aber während des Abends an Spannung; zu vorhersehbar ist das Instrumentarium, das auf der Bühne verwendet wird. So starr sind die Abläufe auf der Bühne. Als ein Zuschauer wagt einen eigenen Text zu formulieren und reinzurufen, bleibt er ohne Erwiderung. Da kennt man das Kollektiv sonst flexibler. Doch ist letztendlich nicht auch dies ein Kennzeichen heutiger Umgangsformen: Man gibt sich locker, nimmt alles brav zur Kenntnis und macht einfach weiter wie bisher. Vielleicht auch in Sachen Eigentum?
Birgit Schmalmack vom 15.2.19