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Die Welt im Rücken, Theaterfestival

Die Welt im Rücken Copyright: Reinhard Werner/Burgtheater



Wahnsinnig gut

Der Mann versucht das Unmögliche. Nur mit sich alleine im Wettstreit, versucht er Tischtennis zu spielen. Doch so schnell er auch die Platte umrast, immer kommt er zu spät, um den Ball aufzufangen. Der Mann hat eine bipolare Störung: Auf manische hyperaktive Phasen folgen depressive. Auf Hyperaktivität folgt suizidale Antriebslosigkeit. Thomas Melle, der Autor, weiß wovon er redet. Er selbst leidet unter dieser Störung. Redete er sich bei ersten Schub noch ein, dass es sich um eine einmalige Phase gehandelt haben könnte, merkt er bei der zweiten, dass er mit Wiederholung rechnen muss. Noch ein Grund mehr, die verschiedensten Arten des Selbsttötung auszuprobieren.
Dabei ist er ein geselliger Mensch, er lebt in einer WG, mit der sich regelmäßig am Tischtennis-Tisch versammelt. Da klappert das WG-Geschirr so wie die Ratschläge der Freunde ausgetauscht werden. Doch auch die ziehen sich zurück, je öfter und anstrengender die Schübe werden. Der Mann, der in seinen Hochphasen Bücher und Artikel schreibt, ausgiebig Partys feiert, das Großstadtleben auskostet und vor Ideen sprüht, vegetiert in den Tiefphasen im abgedunkelten Schlafzimmer vor sich hin. Hält er sich zeitweise für den Messias oder jagt Autos durch die Straßen, so versucht er danach das für ihn sinnlos und unerträglich erscheinende Dasein zu beenden. Es ist ein Leben mit dem ständigen Auf und Ab, mit der immerwährenden Ungewissheit, mit der Unsicherheit, mit der Unplanbarkeit. Er ist den Unwägbarkeiten seines Gehirns ausgeliefert. Er verfängt sich in den Neuronenverbindungen, so wie in den Schnüren, die er über die Bühne spannt. Er tackert Kopien seiner Körperteile wie ein Bild des Gekreuzigten an die Rückwand, wenn er wieder einmal dem Wahn verfallen ist, sich für den Heilsbringer zu halten. Einzig in der Theaterwelt, bei der Inszenierung einer seiner Stücke, darf er sich fühlen wie der Normalste unter lauter Verrückten.
Zum Schluss baumelt ein riesiges Modell eines Organs, das aussieht wie eine Mischung aus Magen und Gehirn, von der Decke. Der Mann klettert hinein. Er, der von seinem Körper regiert wird, darf sich sein Inneres betrachten und schließlich auf ihm thronen. Doch dann steigt er herab und wirkt wieder winzig klein neben dem Modell. Er wird seinen Körperkapriolen ausgeliefert bleiben. Sein einzige Chance ist es, sie zu akzeptieren und zu lernen mit ihnen umzugehen.
Joachim Meyerhoff ist ein wahnsinnig guter Manisch-Depressiver. Er hüpft und springt in dem Gastspiel des Wiener Burgtheaters fast drei Stunden durch das irre Leben von Melle, so dass Beklemmung und Rührung, Amüsiertheit und Trauer, Hoffnungslosigkeit und Aufbruch sich in einem stetigen Wechsel befinden. Ein beeindruckender Abend.
Birgit Schmalmack vom 9.10.17