Fast ganz die Deine
Ein inniger Auftakt
„Um mich ganz verlieren zu können, hätte ich mir sicher sein müssen, dass ich mich nicht mehr brauchte.“ Doch genau diese Sicherheit vermag die Frau in ihrer Beziehung nicht zu finden. So bewahrt sie sich ein Eckchen in sich selbst auf, in dem sie ganz sie selbst bleibt. Sie ahnt das Risiko, das darin liegt: Genau dies wird ihr von dem Mann zum Vorwurf gemacht werden, wenn auch nur zum vorgeschobenen. Denn was für eine Frau ist sein eigentlich Ideal: Eine Frau, die einen ganzen Tag lang dem Geliebten dabei zufrieden und selbstvergessen dabei zusehen könnte, wie er mit seiner Spucke Wasserkringel auf einem See erzeugt. Doch so eine Frau ist sie nicht. Sie beansprucht einen Blick in die Seele des anderen. Und sie wünscht sich ebenso so vom anderen verstanden zu werden. Als sie sich, von Tuberkulose gekennzeichnet ins Sanatorium begibt, bietet er ihr statt Liebe Freundschaft an, und heiratet eine andere.
Klug analysiert die Französin Marcelle Sauvageot in ihrem autobiographischen Briefroman ihre verschmähte Liebe. Die Schauspielerin Johanna Wokalek hat daraus für die Auftaktveranstaltung des diesjährigen Theaterfestivals zusammen mit dem Merlin Ensemble Wien eine musikalische Lesung gemacht. Sie sitzt dabei barfüßig vor dem noch geschlossenen Schauspielhausvorhang auf dem Piano und lässt tief in die Frauenseele blicken, während die Musiker immer wieder die Klänge der Wiener Walzerseligkeit mit Werken von Sibeliues, Brahms und Messiaen gekonnt brechen. Eine stimmungsvolle Einstimmung auf große Theaterabende.
Birgit Schmalmack vom 6.10.15