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Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein © Stephen Cummiskey

Klein-Babelsberg im Schauspielhaus


Mit nichts als sich selbst wagt Irene die Ausreise. Nur die Erinnerungen in ihrem Kopf nimmt sie mit. Das Land, in dem ihr Flugzeug landet, ist so grau wie das Land, aus dem sie aufbrach. Zwar flimmert hier die Werbung, die Schaufenster sind voller unerreichbarer Güter und die Menschen sind abwechselungsreicher gekleidet, doch Irene erscheint alles grau in grau. Irene kommt von einem Überwachungssystem ins nächste. Es herrscht die Zeit des kalten Krieges. Irene flieht vor der Securitas aus Rumänien und landet im Büro des Bundesnachrichtendienstes. Dort des Staats-Umsturzes verdächtigt, gilt sie hier als eventuelle Spionin. Sie bekommt eine Wohnung zugeteilt, Einblick in das westdeutsche Prostituiertengewerbe inklusive. Bald ist nichts mehr sicher. Ist das Knacken im Telefon Zeichen der Überwachung? Ist Franz, den sie schon in Rumänien kennenlernte, vielleicht doch ein Informant? Warum darf ihre Freundin Dana plötzlich ausreisen und sie in Berlin besuchen?
Aus dem Impressionenmosaik von Herta Müller „Reisende auf einem Bein“ wird in der Inszenierung von Katie Mitchell am Schauspielhaus ein Thriller in schwarzweiß. In ihrer besonderen Methode des Live-Film-Sets auf der offener Bühne schneidet sie zusammen mit ihrer Dramaturgin Rita Thiele aus dem Material des ersten Romans von Herta Müller (1989) einen Handlungsstrang. Mit filmtypischen Schnitten und Musikuntermalungen wird Spannung erzeugt. Julia Wieninger spielt die Irene, die in einen Strudel der Überwachung und des Misstrauens gerät. Ganz auf sich alleine gestellt, muss sie sich zurecht findet. Auch mit Franz kann sie sich nur im Bett verständigen. Wenn sie reden wollen, stellen sie fest, dass sie nicht dieselbe Sprache sprechen. An mangelnden Sprachkenntnissen liegt dies nicht. Als Deutschrumänin beherrscht Irene die deutsche Sprache perfekt.
Sowohl die Schwarzweißbilder wie auch die Art der Inszenierung erschafft eine Distanz zu Irenes Erleben, die hervorragend zu Irenes Gefühlen passt. So fremd, wie Irene den Zuschauern erscheint, empfindet auch sie ihre Zwischenexistenz zwischen Ost und West. Der Zuschauer wird wider Willen zum Spion in Irenes Leben. In jeder Ecke ihrer Wohnung ist eine Kamera installiert, die die schwarz-weißen Überwachungsbilder auf die Leinwände projiziert.
Die Perfektion der benutzten Mittel ist beeindruckend. Die fast dreißig technischen Helfer, die dafür nötig waren, stehen zu Recht am Ende für den Applaus mit auf der Bühne.
Birgit Schmalmack vom 29.9.15