Abend der Erinnerung

Der erste Blick

Keine postmigrantische Gesellschaft kann entstehen ohne neue Erinnerungskultur. Der erste Blick sowohl der Einheimischen auf die Neuankömmlinge wie auch der Ankommenden auf ihr neuen Standort ist dabei entscheidend. John Berger und Jean Mohr hatten in den Siebzigern dazu die Bilder und Geschichten in „The seventh man“ geliefert. Als rororo Taschenbuch erschien es auch auf deutsch. Diese Schwarzweißfotos zeigen eine Welt des Übergangs, der Entbehrung, des Aufsparens und der Sehnsüchte. Dr. Vassilis S. Tsianos hat sie für die Besucher in der Kirche auf der Veddel angerichtet.
Der Quartierkünstler der Veddel Adnan Softić hat ein Buch über die besondere Situation auf der Elbinsel geschrieben. Wie könnte die Erinnerungskultur der Veddel aussehen? Mit 67 Nationen, die hier für kurze oder auch längere Zeit auf engstem Raum zusammen wohnen, ist sie wie ein Mikrokosmos der Welt. Ein „noch nicht“ und „nicht mehr“ kennzeichne die Situation der meisten hier. Das gemeinsame Narrativ der Veddel könnte also die Erfahrung der Migration sein. Sofic spürt diese Erfahrungen in seinem Buch „Schlinge und Kristall sind aus dem gleichen Druck entstanden“ nach. Immer hat man die falschen Dinge in den Koffer gepackt. Unmöglich konnte man in der Ex-Heimat ahnen, was man hier im neuen Land brauchen konnte. Die Erinnerung des Körper sind nachhaltig in das eigene Lebensgestaltung eingeschrieben. Doch plötzlich sind diese Körpercodes, die ein selbstverständliches Bewegen im Alltag möglich machen, nutzlos geworden. Jenseits der Sprache, die man nicht versteht, ist auch die wortlose Verständigung unmöglich geworden. Wenn Flüchtlinge erlebt haben, dass Tiere sich menschlicher verhalten als die Menschen, sind Traumata immer mit im Gepäck. Die Trachten und Kleider, die dem Inneren vor dem Äußeren Schutz gegeben haben, sind längst zerfallen. Knoten können zu Schlingen werden. Doch derselbe Druck kann auch einen Kristall werden, der funkelt und schön anzusehen ist. Vertriebene sind näher dran am Leben, denn sie sammeln gezwungenermaßen existentielle Erfahrungen. Die Lesung zusammen mit der Schauspielerin Ute Hanning lieferte interessante, poetische Annäherung an ein mögliches, gemeinsames Erinnerungs-Narrativ.
Anschließend führte die Band Steaua de Mare mit ihrer Musik vor, welche Ergebnisse zustande kommen können, wenn kulturelle Grenzen überschritten werden. Sie mixen Manele mit Elektronik und Dub. Keyboard, Drums, E-Gitarre und E-Geige erzeugen einen Sog, der alles vergessen lässt. Mitreißend, überraschend, atmosphärisch dicht, rhythmisch und sphärisch zugleich. Die E-Geige mit ihrem kratzigen, schroffen Sound, die spitzen Höhen der E-Gitarre, der tiefe Rhythmus der Synthesizer und der treibende Beat der Drums - all das formt einen Sound der einzigartig ist. Sie brachten den Kirchensaal auf der Veddel zum Wippen, Hüpfen, Tanzen und zum Träumen. Das ist eine Erinnerungskultur, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet. Der Abend der Erinnerung füllte die Kirche auf der Veddel mit Leben, das von einer möglichen postmigrantischen Gesellschaft erzählen und träumen lassen konnte.
Birgit Schmalmack vom 24.10.14