Die letzten Zeugen, Theaterfestival

Die letzten Zeugen Foto: Reinhard Werner


Im Dienst gegen das Vergessen

Warum habe ich als einer der wenigen überlebt? Um ein Zeuge und ein Seismograph zu sein. So formuliert es einer der sechs letzten Zeugen, die am Sonntagabend auf der Bühne des Schauspielhauses zum Eröffnungsstück des Hamburger Theaterfestivals standen. Ihre Erinnerungen tragen vier Schauspieler des Burgtheaters Wien vor. Sie berichten von ihren ungeheuerlichen Erfahrungen in Theresienstadt, Neuengamme, Auschwitz, Wilna und Dachau, die sie als Kinder durchleiden mussten. Von der Barbarei der Deutschen und Österreicher, der Todesangst, dem Hunger, den Krankheiten und den Zufällen, die ihnen allen letztendlich das Leben retteten. 1938 mussten die Wiener Juden durch den Anschluss Österreichs zum Großdeutschen Reich von einem Tag auf den Tag erleben, wie die netten Nachbarn scheinbar über Nacht zu Nazis in geschniegelter Uniform wurden. Endlich konnten sich die vorher Arbeitslosen wieder wichtig fühlen. Die Juden wurden zu Abschaum, zu „Juden-Säuen“, zu Feinden erklärt, mit denen keiner mehr Kontakt haben durfte. Schneller als in Deutschland wird manchem klar: Als Jude hier zu bleiben bedeutet Selbstmord. Doch wenige haben die Möglichkeit zu fliehen. Aus den Wohnungen vertrieben, die eigenen Geschäfte zwangsarisiert und ihres Hab und Guts beraubt, werden sie zuerst in Sammelunterkünften einquartiert und dann in Lager abtransportiert. Dort wachen Strafgefangene unter der Aufsicht von SS-Offizieren über sie. Beim Abtransport auf die richtige Seite zu gelangen, kann über Leben und Tod entscheiden. Die auf der rechten Seite kommen in ein Arbeits- und die auf der linken ins Vernichtungslager.
Wenige werden von Österreichern oder Deutschen geschützt. Lucia Heilman wird mit ihrer Mutter von einem Künstler in seiner Werkstatt versteckt. Als die Bomben der Alliierten auf Wien zu fallen beginnen, freut sie sich trotz der eigenen Lebensgefahr. Den Einmarsch der Russen erleben die Überlebenden als die ersehnte Befreiung, an die sie nicht mehr zu glauben gewagt hatten. Doch die Erinnerungen werden sie nie loslassen. Sie haben ihr Leben so geprägt, dass sie es der Erinnerung an die sechs Millionen Toten der Nazi-Diktatur verschrieben. Der Regisseur Matthias Hartmann und der Historiker Doran Rabinovici haben ihnen dieses wichtige Theaterstück gewidmet, bevor es zu spät ist. Denn sie sind im Alter von 81 bis 101 Jahren die letzten Zeugen. Ein Stuhl auf der Bühne bleibt schon leer. Die Romni Ceija Stoika verstarb kurz vor der Wiener Premiere. Dieser Abend kommt ohne theatralen Aufwand aus. Er zeigt nur original Schwarz-Weiß-Fotos und die projizierten Köpfe der anwesenden Zeitzeugen. Die Schauspieler lesen ihre Texte vor, bis immer einer der Zeugen selbst ein Gedicht, eine Erinnerung oder eine Mahnung am Stehpult vorträgt. Den Erzählungen, die ohne Anklagen aber mit Verpflichtungen verknüpft wird, kann sich keiner entziehen. Sie machen sprachlos, drücken nieder, berühren, machen betroffen und rufen auf gegen das Vergessen und zur Verantwortung.
Birgit Schmalmack vom 30.9.14