Kurze Interviews mit fiesen Männern, Sprechwerk

Abrechnung mit der Lebenslüge

Keiner hatte ihn vorgewarnt. Keiner hatte ihm erzählt, welche Veränderung seines Lebens er klag- und hilflos entgegen nehmen müsste. Keiner hatte ihn darauf hingewiesen, dass von einem Tag auf den nächsten ein sapperndes, brüllendes Etwas über seinen Alltag bestimmen würde, das seine Frau gerade unter irrsinnigen Schmerzen aus sich herausgepresst hatte.
Es kam noch schlimmer: Ab diesem Tag hatte er nicht nur einen kleinen egoistischen Tyrannen im seinem Haus sondern auch die liebens- und bewundernswerte Frau verloren, die er geheiratet hatte. Sie verwandelte von seiner Geliebten und Gefährtin in ein höriges Muttertier, das nur noch Augen und Ohren für ihr zu umsorgendes Kleines hatte. Dieses raubte ihr den Schlaf und ihm die Bettgenossin. Doch im Gegensatz zu ihm war sie unfähig, diese strategische Tyrannei zu durchschauen. Er jedoch war zum Schweigen verdammt, zu lebenslanger Lüge. Er durfte ihr die Augen nicht öffnen, es hätte ihr das Herz gebrochen. So schwieg er und wurde zu eifersüchtigen Beobachter dieser inniger Liebesbeziehung, an der keinen Anteil nehmen konnte.
Erst jetzt auf seinem Sterbebett bricht er sein Schweigen, doch wahrscheinlich nur für ihn selbst hörbar. Halb im Delirium, zwischen Leben und Tod schwebend, immer unterbrochen von Schwächeanfällen und ärztlichen Interventionen, macht er seinem Herzen in einem Selbstgespräch bei der Bilanzziehung über sein gelebtes Leben Luft, nicht ahnend, dass sein Sohn an seinem Bett steht. Nun sind die Rollen umgekehrt: Der Vater ringt um Atem, sappert und wütet und der Sohn beobachtet ihm schweigend aus der Distanz.
Regisseur René Braun hat einen Monolog aus David Foster Wallace bitterbösem, erhellendem Buch „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ auf die Bühne gebracht. Sein hervorragender Solodarsteller Frank Grupe zeigt im Sprechwerk keinen „fiesen Mann“ sondern einen liebenden, zurückgewiesenen und hilflosen, Ehemann, der seine Eifersucht nicht zu bändigen weiß. Denn er hat einen Nebenbuhler, gegen den er sich nicht wehren darf. Es ist ein kleiner, kranker Säugling, der ihn seiner Vorrangstellung enthoben hat.
René Braun gesellt Grupe einen stummen Sohn an die Seite, der ihn direkt oder durch die Webcam beobachtet. Das ist ein kluger Einfall. Auf der Bühne sitzt auch eine Percussionistin. Der Dialog, der sich auf der Bühne zwischen Text und Instrument entspannen sollte, ging jedoch nicht immer auf. Nur selten schienen sich beide Elemente zu besserem Verständnis zu ergänzen. Erst als Grupe am Mikrophon einzelne Passagen als Sprechgesang direkt zu den Beats intoniert, fügen sie sich zu einem Ganzen zusammen. Vielleicht muss sich die Hamburger Ersatzbesetzung (Kristiina Tuomi) für den in Berlin spielenden Gisbert zu Knyphausen erst einspielen. Ein sehenswerter, äußerst interessanter Abend, der durch Crowdfounding zustande gekommen und nun auch in Hamburg zu sehen ist.
Birgit Schmalmack vom 31.10.14