Mare nostrum?
Unser Meer?
Das Wasser glitzert in der Sonne. Die Mädchen spielen mit den Füßen im Sand. Wunderschöne Menschen in weißen Kleidern bewegen sich fließend zu harmonischer Musik. Doch manches passt nicht ins Bild. Vor der Bühne liegen überall nasse Kleidungsstücke verstreut herum. Die Frau hinter dem Gazevorhang erzählt von den beklemmenden Situationen auf dem engen Boot, als es zu kentern droht. Der junge Mann mit dem leeren Bilderrahmen tritt zwischen den Zuschauern hervor und berichtet von seiner vergeblichen Suche nach seinem Bruder, der sich mit dem Geld der Familie nach Italien aufgemacht hat und jetzt verschollen ist.
Von diesem „Mare Nostrum“, wie das Mittelmeer auf Lateinisch heißt, erzählt der gleichnamige Abend des TeatroLibero im Sprechwerk. Doch ist dieses Meer wirklich unser aller Meer? Denn an diesem Meer vergnügen sich nicht nur Familien im Strandsand, sondern ertrinken zig tausende Menschen, die für ein besseres Leben nach Europa fliehen. Sie werden von Schlepperbanden für viel Geld in seeuntüchtige Nussschalen gesteckt. Viele der Flüchtlinge verdursten oder ertrinken auf ihrer Flucht. Europa rettet sie nicht. Im Gegenteil: Selbst wenn sie es an Land schaffen, schiebt die Push Back Politik sie schnell wieder in ihr Heimatland ab.
Dieses schwierige Thema hat sich TeatroLibero für seine neuste Produktion vorgenommen. Doch der Abend wird keineswegs düster. Regisseurin Marina Siena, die auch für das Buch und mit Giovanni Zocco für die Choreografie zuständig ist, benutzt sehr viele schöne Bilder um im Kontrast dazu die Not umso stärker zur Geltung zu bringen. So gibt es viele fließende Tanzszenen in zarten Kleidern, die von für alle wünschenswerter Schönheit, Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft erzählen. Die dazu projizierten Fotos (Eleonora Cucina) von bedrohlichem Kampf mit dem Wasserelementen, die Doku-Videoaufnahmen (Simone und Thorsten Dibowski) von Flüchtlingen und die Erzählungen über Ertrunkene lassen die Harmonie jedoch Risse bekommen. Besonders eindrucksvoll sind die letzten Szenen, wenn diese beiden Ebenen zusammengeführt werden. Dann kommen alle Tänzer mit leeren Bilderrahmen auf die Bühne. Sie scheinen verschwundene Angehörige zu suchen, die sie auf der Flucht verloren haben. Zum Ende werden sie selbst zu den Vermissten. Dann halten sie den Bilderrahmen vor ihr eigenes Gesicht. Diese Dramen, die sich auf unserem Meer abspielen, gehen uns alle an, scheinen sie zu sagen.
Birgit Schmalmack vom 28.10.14