Ira Demina in -0,57 Celsius
Dancekiosk 2011
Festivaltagebuch
Teil 1: Interessanter Abend mit Highlight
Wie verändern die virtuellen Welten unsere Realitätswahrnehmung? Das testet die Tänzerin Ulrike Tuch in ihrer Schatten-Realitäten-Revue vor der Projektionswand, auf die digitale Muster geworfen werden. So verschiebt sie die Perspektivachsen eines Zimmeransicht durch eine eigene Drehung. So wird sie von den Wellenlinien auf der Wand nach oben oder nach unten geschoben. So kann sie den weißen Fleck auf der schwarzen Rückwand mit ihren Armen und Beinen wie mit einem Pinsel vergrößern. So kann sie mit der Vervielfältigung ihrer selbst in einem virtuellen Trio tanzen. Das ergab tolle Effekte in dem Graphik-Konzept von Elio Wahlen und Kirill Lorenz.
Unser Puls gibt den Takt vor. Wie er sich verändert und wie er uns verändert, untersuchen die fünf Tänzer aus den Niederlanden und Deutschland in der Choreographie Pulse von Jolika Sudermann. Zuerst lassen sie sich nur von ihrem eigenen Takt zu ganz individuellen Bewegung verleiten. Jeder der Fünf lässt sie von dem einsetzenden Metronomrhythmus in seiner Art treiben. Erst als die Technomusik den Takt übernimmt, synchronisieren sie ihre Bewegungsmuster. Eine Studie nicht nur über die Beziehung von Pulsfrequenz, Takt und Rhythmus sondern auch eine Wurzelerkundung der Technomusikfaszination.
Die faszinierende Arbeit Frugal Feasts von Rachel Birch-Lawson und Khyle Eccles bildete den Höhepunkt des ersten Blocks. Die zarte kleine Frau und der große Mann liefern sich einen spannenden Kampf um Macht, Manipulation, Abhängigkeit, Unterdrückung und Liebe. Wie der Mann sich auf der Frau hängen lässt, wie sie ihn die Hand auf den Boden festnagelt und ihm jede Bewegungsfreiheit nimmt, wie er sich die Frau zwischen Brust und Beine hängt, wie sie sich halb umarmend halb ringend über die Bühne kegeln, wie sie ihn mit ihrem Kuss in die Knie zwingt und wie er sie zum Schluss apathisch hängend in Schwerstarbeit über die Bühne trägt, all das ist in seinen plötzlichen Wendungen so spannend wie ein Krimi. Doch damit nicht genug ist diese psychologische Beziehungsstudie auch noch von technischer Perfektion.
Körpertherapeutin Christa Hansen schaffte es dagegen nicht mit ihrer Performance Something about nothing für ihr Thema des Verschwindens von Zeit in gleicher Weise zu interessieren. Zu getragen und von betonter Gewichtigkeit war ihr Vortrag über die Begleitung ihrer sterbenden Tante.
Die Ruff Monkeys lieferten mit The way you dress is a political statement den spritziger Abschluss des ersten Programmblocks. Ironisch gekonnt nehmen die jungen Mädchen das Girlie-Image auf die Schippe und nebenbei sich selbst. In ihrer gekonnt gebrochenen Darbietung des sexy-MTV-Styles hinterfragen sie mit schmissigen Choreographien den Styling-Fetischismus einiger Hamburger Stadtteile.
Teil 2: Perfromancelastig
In der Instigated Performance versucht die Siebener-Gruppe um Dani Brown dem Umstand Rechnung zu tragen, dass alle Tänzer auf dem Festival keine Gage bekommen. Sie bitten gegen Dienstleistungen aller Art um Spenden aus dem Publikum. Statt des erwarteten Tanzes werden nun Masssage, Mochitos, Wahrsagerei, Jonglage oder rote Fingernägel gegen Bares angeboten.
Jascha Viestädt ist der ausdrucksstarke Tänzer in Selbstgestalt - eine Soloperformance von Philipp van der Heijden. Ausdrucksformen für das Selbst werden gesucht. Robbend, kriechend, schreiend, grunzend oder tanzend werden sie zeitweise gefunden. In sich geschlossen, kryptisch bleiben die zum Teil interessanten Einzelbilder und wollen sich zu keinem Ganzen fügen.
Viel entgegenkommender war Ex-Pose von Anastasia Schwarzkopf. Frech, kokett und selbstironisch fragte sie nach den Bildern im Kopf der Zuschauer. In immer neuen Posen spielte sie gekonnt mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die sich im geborsteten Spiegel und in den aushängenden Aktzeichnungen widerspiegelten.
Die Parallelwelten zeugten dieses Mal nicht von gescheiterten Integrationsdebatten. Die erzählten vielmehr von der Diskrepanz zwischen den eigenen Idealen und den ereichten Wirklichkeiten. In spannenden Tanzsequenzen, die sich aus viel Breakdance, Modern Dance und ein wenig Ballett speisten, untersuchten die sechs jungen Tänzer unter der Regie von Feline Volkmann die Beziehungen zu den eigenen Gefühlen in der Gruppe. Ein mitreißender Beitrag, der die Emotionen der Zuschauer direkt ansprach.
Teil 3: Ein Luftballon animiert zum Höhenflug
Eine gemeinsame Idee soll her und zwar in sieben Probentagen. Einblick in ihre Arbeitsweise als Choreographieensemble geben Signe Koefoed, Alexandra Denk und Gry Raaby in Lets talk about what we do in seven days. So erzählen sie in ihrem Probentagebuch von ihren Versuchen eine tragende Idee für ihr Stück zu finden. Doch die Aneinanderreihung von Alltagsbewegungen sitzend auf einem Stuhl oder die Titelfindung für eine Installation aus einem auf Stelzen gestellten Stuhl machen noch keine mitreißende Performance aus. Einzig der pseudo-intellektuelle Vortrag von Alexandra Denk über ihr Vierpunkteprogramm zur Ideenfindung zeugte von einigem Witz.
Ganz anders Ira Demina. In -0,57 Celsius bewies sie großes Tanz- und Bühnentalent. Sie zeigt, was ist bei Blut gefrierenden Temperaturen noch möglich ist und was passiert, wenn die Körperfunktionen allmählich aussetzen. Man sieht abgehackte Bewegungen, abtastendes Befühlen der Körperteile, mühsames Voranschieben der Beine, Röcheln, Husten, Haare Raufen, Einigeln und Tanzsequenzen, in deren Verlauf jede Muskelgruppe gesondert angesteuert wird. Wenn Demina zum Schluss mit einem Luftballon um den Hals auf die Bühne kommt, wirkt das wie ein Sinnbild für das Höhere, das sie am Leben erhalten hat, wenn auch seine "gewichtige" Wirkung nur eingebildet sein mochte.
Ayara Hernandez Holz und Felix Marchand spielen mit den Erwartungshaltungen des Publikums. Ihnen fallen viele komische und überraschende Bilder ein, um die Instabilität im Leben zu zeigen. Immer wieder kippt die Situation. Da erkennt man plötzlich Zuschauer im Saal, die einem zuschauen, da entdeckt man auf einmal den anderen, der mit auf der Bühne agiert, da hallen die eigenen Schritte um Sekunden verzögert nach, da schaufelt man nicht nur die Energie sondern auch das Licht vom Zuschauerraum auf die Bühne, bis man sich in einer kleinen Ecke festgerannt hat. Eine Spannung über die vollen 40 Minuten ihrer Aufführung mag Komischer Eingang dennoch nicht zu erzeugen. Zu lang sind die Wiederholungsschleifen, zu einfach die Bewegungen und zu Geduld strapazierend die Pausen.
Teil 4: Motivierender Abschluss
Dieser Teil hielt gleich zwei Höhepunkte bereit: Die Lecture performance Darf man 2010 "in the rain" tanzen vom Kollektiv Bauchladen Monopol und Faces of Maike Mohr.
Die erstere stellte die Frage, wie öffentlich zugänglich der Öffentliche Raum noch ist. Dazu erarbeiteten die vier Künstlerinnen eine Choreographie die sich an den Film "Singing in the rain" anlehnte. Diese führten sie insgesamt neun Male in öffentlichen Räumen vor: Shopping Malls und Behördengebäude waren ihre bevorzugten Plätze. Meist konnten sie ihre vorgesehenen 40 Minuten nicht absolvieren, sie wurden zuvor vom Sicherheitspersonal entfernt. Ihre Performance ermittelte so, wie inwieweit der Öffentliche Raum heutzutage den privaten Interessen einzelner unterstellt ist. Während ihrer bisherigen Auftritte entzogen sie sich jeder Kategorisierung, indem sie bewusst jede Erklärung verweigerten. Die Zuschauer im Sprechwerk hatten es da viel einfacher: In einer Lecture Performance erläuterte immer eine der Vier ihr Tun am Vortragspult.
Maike Mohr dagegen betrieb in Faces of Maike Mohr Studien in eigener Sache. Sie untersuchte in ihrem spannenden und mitreißenden Beitrag die Wandlungsfähigkeit des Menschen am Beispiel Maike Mohr. In immer wieder neuen Outfits erschien sie auf der Bühne und lieferte immer ein ganz anderes Bild von sich. Sie mutierte blitzschnell von einer MTV-Video-Tänzerin zu einer Breakdancerin in Kapuzenpulli oder barfüßigen, privaten Maike in Schlabberhemd und führte vor, wie sehr der erste Eindruck trügen kann.
In Verena wann tanzen wir erlebte man, wie es aussieht, wenn ein Backrezept getanzt wird. Das war sehr witzig und selbstironisch und bestätigte die Behauptung von Verena Brakonier gegenüber ihrer Tanzpartnerin Irina Vikulina, dass jede Bewegung zum Tanz werden könne. Die Performerinnen um Anja Winterhalter in Wenn uns jemand sieht, sag wir haben einfach kurz Luft geschnappt wollten den Augenblick sichtbar machen. Für die Zuschauer blieben ihre überwiegend statischen Bewegungen um die Milchtüten und Glasschalen aber sehr rätselhaft und konnten keine Geschichte erzählen.
Birgit Schmalmack vom 22.7.11
Zur Kritik von
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