Das Urteil
Wie sieht deine Wahrheit aus?
Warum sollen die Opfer erzählen, wenn niemand ihnen zuhört? Samuel Rabinovicz hat vorgezogen zu schweigen. Doch nun sitzt der New Yorker Antiquar hier mit einem unbekannten Mann in einer Flughafen Lounge zusammen fest und erzählt. Dieser Mann scheint sich wahrhaft für Gerechtigkeit zu interessieren und so öffnet sich er. Erst ganz zum Schluss wird er entdecken, dass er sich von seiner eigenen Wunschvorstellung hat täuschen lassen.
Um Vorstellungen der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung für die Formung von Realitäten geht es in „Das Urteil“. Dafür lässt der Autor Paul Hengge zwei Menschen aufeinander treffen, die sich unter normalen Umständen wahrscheinlich nicht begegnet wären. Rabinovicz ist ein ausgewanderter Holocaust-Überlebender, der seine ganze Familie durch die Nazis verloren hat, und Markus Schlüter ein Sohn eines Nazis. Hier begegnet sich die nachfolgende Generation von Täter und Opfer und tauscht sich über Themen wie Strafe, Verantwortung, Rache und Gerechtigkeit aus. Sie überprüfen ihre Sichtweisen anhand eines heutigen Falles: Schlüters einziger Freund ist des Mordes angeklagt und Rabinovicz sein Hauptbelastungszeuge. So fängt Schlüter ihn unter Vortäuschung falscher Tatsachen auf seinem Anflug ab, erschleicht sein Vertrauen und versucht ihn von der Unschuld seines Freundes zu überzeugen. Ein raffiniertes Kammerspiel, in dem die Zusammenhänge nur puzzlestückweise enthüllt werden zeigt Regisseurin Ayla Yeginer. Sie hat dafür die Idealbesetzung der Hauptdarsteller gewinnen können. Murat Yeginer zeigt Rabinovicz als einen leicht vertrottelten, unsicheren Mann, der gelernt hat seine Lebensverletzungen und sein Misstrauen hinter einer Fassade aus zurückhaltender Freundlichkeit zu verbergen. Immer wieder lässt Yeginer jedoch seine Angst, aber auch seinen Wunsch endlich Vertrauen schöpfen zu können durchscheinen. Seine Suche nach einem guten Menschen verführt ihn schließlich dazu, sein angelerntes Misstrauen abzulegen und sich auf Schlüter einzulassen. Umso enttäuschter fühlte er sich zum Schluss. Harald Weiler zeigt Schlüter als Strategen, der alles tut, um sein Ziel zu verfolgen. Erst als er es endlich offenbart hat, lässt er auch in seine Seele blicken. Doch das bleibt nicht die letzte Wendung in diesem Enthüllungsstück. Der überraschende Schluss stellt erneut die Sichtweisen auf die Wahrheit in Frage. Ein sehr intensives, spannendes Kammerspiele im Kontrastprogramm des Winterhuder Fährhauses mit zwei exzellenten Hauptdarstellern.
Birgit Schmalmack vom 3.8.13
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