Anstarren erwünscht!
Die Fronten sind klar getrennt. Auf der einen Seite sitzen im Halbkreis elf „Disabled“, Menschen mit einer Behinderung, auf der anderen Seite „Normalos“, die sie anstarren. Eine Situation, die normalerweise als moralisch bedenklich angesehen würde, wird nun von Jerome Bel zum Kunstereignis erklärt. Über das Ergebnis darf und sollte man distukieren. Der Konzept-Choreograph Bel hat in der Zusammenarbeit mit der Schweizer Theatergruppe Hora, die nur mit behinderten Schauspielern arbeitet, ein Stück entwickelt, in dem es keine „Rollen“ gibt. Die Schauspieler spielen hier sich selbst. Kleine Aufgaben stellt Bel ihnen, wie die Übersetzerin von Schweizerdeutsch zu Englisch auf der Bühne erklärt. Zuerst sollen sie sich eine Minute still vors Publikum stellen. Einer hält es nicht einmal eine Sekunde aus, einer anderer muss nach zwei Minuten aufgefordert werden zu gehen. Danach sollen sie sich vorstellen, Als Beruf gaben sie alle an: „Schauspieler“. Die gängige Vorstellung dieser Profession stellen sie aber auf den Kopf. Als sie nach ihrer Form der Behinderung gefragt werden, spiegelt „Ich bin ein Mongi“, „Ich weiß es nicht“, „Ich habe ein Chromosom mehr als Ihr“, die Brandbreite ihrer Antworten. Das Kernstück der Aufführung bilden eigene Choreographien der Schauspieler zu selbst ausgewählter Musik. Einer zeigt eine originelle Sitz-Tanz-Performance, eine andere eine versuchte Michael Jackson Kopie, ein weiterer singt die Sterne zu einem Volkslied an. Die Darbietungen reichen von peinlich, witzig, bemüht bis anrührend. Zum Schluss bekommen sie den Auftrag ihre Meinung zum Stück zu äußern und von den Reaktionen ihrer Umgebung zu erzählen. Eine Mutter nannte die Vorstellung eine Freakshow, eine Schwester heulte auf dem Rückweg. Die Schauspieler werden wie Tiere im Zoo vorgeführt worden. Die Akteure selber finden den Abend schlicht „super“ oder „anstrengend“. Derweil zeigen die anderen Schauspieler klar, was sie von dem Äußerungen und Darbietungen ihrer Kollegen halten. Ihre Schenkel klopfende Begeisterung tun sie ebenso ungefiltert kund wie ihre gähnende Langeweile. Obwohl auf der Bühne so wenig Spektakuläres passiert wie bei einer Schultheateraufführung, schafft es Bel viele Überlegungen beim Zuschauer in Gang zu setzen. Es unterläuft konsequent die Erwartungshaltung der Zuschauer an ein Tanztheaterstück. Es macht bewusst, wie verdrängend die Tanztheaterlandschaft für die Nicht-Perfekten ist. Gerade in dieser Kunstform zählt schließlich die körperliche und technische Perfektion. Auch thematisiert es die Verdrängung von Behinderten an die gesellschaftlichen Ränder, so weit, bis man sie nicht mehr sehen muss. Bel nimmt für die diese Effekte in Kauf, die geistig Beeinträchtigten ohne den Schutz von Rollen auf der Bühne auszustellen. Immer wieder wird in den Reaktionen betont, dass die Behinderten selbst sehr gut durchschauen könnten, was mit ihnen passieren würde. Doch liefern dafür die kritischen Töne, die Bel geschickt in die Performance mit eingebaut hat, schon den entlastenden Beweis? Tatsächlich aus dem Verhalten der Schauspieler ablesen kann man ihn nicht. Denn hier sieht man Menschen, die sich ungeniert ihren jeweiligen Emotionen hingeben: sich kratzen, schunkeln, räkeln, ankuscheln, loslachen oder starr auf den Boden gucken. Man sieht Menschen, die beschämt sind über eigene vermeintliche Fehlleistungen. Man sieht Menschen, die stolz sind über den erhaltenen Beifall. Dieser Abend irritiert sehr. Neben dem Unbehagen über die eigenen und gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen bleibt eines über die Benutzung von Menschen zur Mehrung der möglichen moralischen Selbsterkenntnis. Birgit Schmalmack vom 22.2.13
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