Großes Theater ohne Denktabus
Frau Tod sucht einen gewissen Herrn Hitler (Tonio Arango) im Wiener Obdachlosenasyl, wo er sich bei den ebenfalls mittellosen Juden Herzl (Peter Kremer) und Lobkowitz (Dimosthenis Papadopoulus) verkrochen hat. Herzl will die Begegnung hinauszögern und unterhält die Frau mit seinen amüsanten philosophischen Überlegungen über Gott, den Tod und das Leben so gut, dass sie verspricht ein weiteres Mal zu kommen. „Wollen Sie den Herrn Hitler wirklich schonen? Das werden Sie noch bereuen, “ prophezeit Frau Tod den menschenfreundlichen und großherzigen Herzl. Der große George Tabori hat eine Freundschaftsgeschichte zwischen dem Täter und dem Opfer, dem Schlächter und seinem Huhn geschrieben. So wird die Zubereitung eines Huhnes auf der Bühne dann auch zu einer Metapher für das kommende. Wenn das Huhn in der Pfanne schmort, sieht der Zuschauer andere brennen. Tabori lässt in „Mein Kampf“ den armen, ungebildeten Schlucker Hitler auf den intelligenten, belesenen Herzl treffen, der gerade an einem Buch schreibt, das den Titel „Mein Kampf“ trägt. Auch die Idee Politiker zu werden bekommt der untalentierte Maler und Schauspieler Hitler, der eigentlich Künstler werden wollte, von dem schlauen Juden. Torsten Fischer offenbart in seine Inszenierung im Ernst Deutsch Theater die Absurdität und den Witz, die Güte und die Unmenschlichkeit, die Liebe und den Hass. Vor der metallenen, schwarzen Brandschutzwand kriechen die Schauspieler gebückt auf den schmalen Bühnenrand. Gedrückt von der Last der Geschichte haben sie ihre Aufrichtigkeit eingebüßt. Als die Wand nach oben fährt, offenbart sie nur eine weitere, von der sich einzelne Segmente als Emporen öffnen lassen. Ein geniales Bühnenbild, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft symbolisiert und die Beschränktheit der Existenz und ihre partielle Erweiterung zeigt. Hitler verkommt in dieser Satire nie zur Karikatur. Die Größe dieser Inszenierung ist gerade, dass Hitler bei aller Lächerlichkeit auch die Seiten im Menschen offenbart, die jeder in sich trägt. Schlomos Geliebte Gretchen (Anna Franziska Srna) verkörpert zugleich Frau Tod - auch hier wieder zwei Seiten einer Gestalt. Der Reiz dieses Gedankenexperimentes Taboris liegt darin, dass plötzlich alles imaginierbar erscheint. Die Schönheit und die Scheußlichkeit der menschlichen Seele sind keine Gegensätze, sondern liegen direkt nebeneinander. Was hätte alles sein können, wenn Hitler sich auf Herzls Freundschaftsangebot eingelassen hätte? Die Unbefangenheit Taboris gedankliche Tabus nicht anzuerkennen ist befreiend und erhellend zugleich. Einfachen Schwarz-Weiß-Malereien verweigert er sich wohltuend. Genau wie dieser herausragende Theaterabend im Ernst Deutsch Theater. Birgit Schmalmack vom 12.6.12
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