Waisen, St. Pauli-Theater

Waisen by Oliver Fantitsch



Zerstörung einer Idylle

Immer schon hat Liam (Hark Bohm) diesen Vorbildschwager, den seine Schwester Helen (Judith Rosmair) geheiratet hatte, beneidet. So unbeschwert und umsorgt groß gezogen, so vorbildlich die Schulkarriere hinlegt, so reibungslos der Aufstieg im Berufsleben geschafft, so unbeschwert erschien ihm Dannys (Johann von Bülow) bisheriges Leben. Er dagegen wurde schon früh mit seiner Schwester zusammen Vollwaise, lebte in Heimen, hoffte auf eine gemeinsame Pflegefamilie, die nie kam, flog von diversen Schulen und startete eine erfolglose Kleinkriminellenkarriere. Nun platzt er in das romantische Abendessen seiner Schwester mit ihrem Mann und konfrontiert sie direkt mit der „Scheiße, die er sein Leben lang fressen musste“: Über und über ist er mit Blut beschmiert. Helen ist so bemüht, ihrem Bruder die verlorene Familie zu ersetzen, dass sie ihrem Mann die Loyalitätspistole auf die Brust setzt. Entweder bist du ein Mann und stehst zu mir und meinem Bruder oder du bist ein Feigling und meiner nicht mehr würdig. Erst später wird sich herausstellen, dass sie damit genau die Beschädigung ihrer Familie in Gang gesetzt hat, die sie unbedingt vermeiden wollte.
Dennis Kelly hat ein Kammerstück geschrieben, das vor Melodramatik nicht zurückschreckt. Regisseur Winfried Mink lässt die Momente der dramatischen Überspitzung von seinen drei hervorragenden Darstellern voll ausspielen. Das kontrastiert mit dem engen Kellerkabuff, in das er die Drei zusammen einsperrt. Hier entkommt keiner. Auch nicht der Zuschauer. Auch er muss sich ungeschönt der Erkenntnis stellen, dass vor der vermeintlichen Idylle der heilen Welt jederzeit der Einbruch der brutalen Realität lauert. Von feiner Zuspitzung einer wahrhaften Tragödie ist Kellys Stück zwar weit entfernt, dafür hält es klare Botschaften parat. Spannender, drastischer Stoff, der dem Publikum wohlige Schauer über den Rücken laufen ließ. Selbst in vermeintlichen Gefahrengebieten auf dem Kiez sind sie da noch besser dran und können ungestört in die nächste Bar zum verdienten After-Drink einlaufen.
Birgit Schmalmack vom 3.3.14