Mittwoch
Provokation wagen
In einer Theaterstätte, die explizit nicht barrierefrei ist, ein mixed-abled Festival ins Leben zu rufen, erfordert Mut und Tatkraft. Beides bewies die Leitung des Monsuntheaters. So findet dieses Jahr schon zum dritten Mal des Aussicht-Festival in dem Off-Theater in Ottensen statt. Das Engagement hat sich ausgezahlt. Bereits zur vierten Ausgabe soll die Barrierefreiheit auch architektonisch umgesetzt sein. Sowohl die Stadt Hamburg wie die Bezirkversammlung unterstützen den Umbau mit insgesamt fast 800 000 Euro.
Es wird heiß, kündigte Theaterleiterin Francoise Hüsges am Mittwoch zur Eröffnung an. Und sie versprach nicht zu viel. In der ersten Performance spielte Edu O. aus Salvador in „Striptease Bicho“ ganz bewusst mit der Erotik seines (fast) nackten Körpers. Er geht in seiner Performance den Fetisch des behinderten Körpers konfrontativ an. Zunächst verlängerte er seine gelähmten Beine mit Pferdehufen, die wie er eine sitzende Ballerina herumschleuderte oder einen sich als verlängerten Phallus aufbäumen lassen konnte. Mit aufgeklebten Wimpern gibt er die verführende Diva, mit Pobacken-Kreisen den Vamp. Die klare Botschaft von Edu O., die er konsequent, offensiv, mutig und mit viel Ironie umsetzte, zeigte ein klares Zeichen für Gleichberechtigung und Toleranz.
Die zweite Arbeit des Abends „Canto Dos Malditos“ („Lied der Verdammten“) von Marcos Abranches hatte sich noch höhere Ziele gesetzt. Abranches zeigte sich auf der Bühne gleich in zweifacher Aufführung: Einmal im Video auf der Leinwand und einmal in Natura direkt vor den Zuschauern. Im schwarz-weißen Video schien er durch den geschickten Schnitt fast ohne jede körperliche Einschränkung tanzend durch den Raum zu schweben. Der wunderbar muskulöse durchtrainierte Oberkörper zeugte von Körper-Kraft und Beherrschung. Die Bewegungen des etwas älteren Abranches auf der Bühne dagegen sprachen von der Mühsal, Anstrengung, Beschränkung und dem Kampf mit seiner spastischen Lähmung. Wenn der Gefangenchor aus Nabucco ertönt oder der Punkrock-Song dröhnt, stets ist der Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens direkt spürbar. Abranches konkurrierte mit seinem Alter Ego auf der Leinwand. Wunderschöne Bilder dort, verzweifeltes Bemühen hier. Um seine Botschaft noch deutlicher werden zu lassen, wäre eine engere Verzahnung der Elemente schön gewesen.
Birgit Schmalmack vom 30-8-19
Freitag
Wasser, Körper und Kameras
Nils Löfkes Performance "And how it will live after I created it" bietet eine überbordende Fülle an Ideen, Materialien, Bewegungsstudien und Bonmots. Er richtet im Werkstattraum des Monsuntheaters ein buntes Mosaik zum Thema Bewegung an. Er schlüpft dazu in vier verschiedene Charaktere, die wiederum unterschiedliche Bewegungsmuster ausprobieren. Noch ist es ein work in progress, eine konsequente dramaturgische Linie steht im Moment noch im Widerstreit mit der überbordenden Fülle an Ideen. Löfke beeindruckt mit innovativen Bewegungsansätze, die sich aus dem Breakdance in Verknüpfung mit Modern Dance speisen, absoluter Körperbeherrschung, unprätentiöser Ehrlichkeit und sprudelnder Ideenvielfalt.
Eine gemeinsame Bewegungssprache wollten Renae Shadler und Roland Walter für ihre gemeinsame Performance "Skin" finden. Ihre unterschiedlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten sollten sich nicht kontrastierend gegenüberstehen sondern auf sich auf einer Ebene begegnen. So sitzen sie sich zunächst verpackt in Schlafsäcken gegenüber. Wie Raupen kurz vor ihrer Verpuppung winden sie sich auf ihren Sitzen. Allmählich kommen Arme und Beine zum Vorschein, bis sie sich ganz aus ihrer Verpackung geschält haben. Sie sind bereit für eine Kontaktaufnahme mit dem Gegenüber. Renae lässt Roland über den Boden schweben, bis sie in einem Pool landen. Die Zuschauer sind aufgefordert das Bassin mit Wasser zu füllen. Gemeinsam wird das Medium Wasser erkundet und die Auswirkungen auf die Körper. Für das Aussicht-Festival wurde die kostengünstige Version der Performance gezeigt. In Australien soll der Pool Teil des Bodens werden und das Wasser so warm sein, dass sich die Spasmen von Roland entspannen können und Ranaes Haut dagegen anfangen wird zu schrumpeln. Doch auch bei der Sparversion konnten die Zuschauer schon einen Eindruck von der sympathischen Zusammenarbeit auf Augenhöhe gewinnen.
Aus Hildesheim kamen Selina Glockner und René Reith mit ihrer Videoperformance "Influence". In ihr hinterfragen sie die Entstehung von Bildern und Filmen. Die ständige Präsenz von Kameras im Alltag lässt diese Frage immer aktueller werden. Wo ist „Original“ und „Reproduktion“, wenn die Bilder selbst inszeniert und ins Netz gestellt werden? Wie ist Kontrolle über die Bilder noch möglich? Wie sieht es aus, wenn die Bilder von Dritten hergestellt und genutzt werden?
Die Tänzerin Selina Glockner führt zwei Kameras an ihrem Körper. Während sie sich bewegt, erzeugt sie so genau die Bilder, die sie zeigen will. Sie kann so ihre eigene Perspektive auf die Leinwand werfen. Ob nun von den Zuschauern, dem Bühnenraum oder ihren eigenen Körperteilen in Großaufnahme. Über die zwei fest installierten Kameras, die auf den Raum gerichtet sind, hat sie weniger Kontrolle. Von der Decke wird sie aus der Vogelperspektive ständig observiert. Diesem Blick kann sie nur entkommen, wenn sie sich außerhalb des Blickwinkels der Kamerabewegt. Zum Objektiv auf dem Stativ kann sie dagegen den Abstand selbst regulieren und dadurch zumindest den reproduzierten Fokus verändern.
Die Performance widmetet sich interessanten Fragestellungen, wurde jedoch durch ihre strenge Choreographie sehr legitimiert. Richtig spannend wurde es immer, wenn Glöckner aus diesem strikten Bewegungsmuster ausstieg und sich zum Beispiel der Überwachung und Bilderzeugung komplett entzog, als sie den riesigen Bildschirm von der Rückseite umarmte. Nur ihre realen Arme und Beine waren noch sichtbar, ganz real und ohne Medienverwertung. Mehr dieser Brüche hätten diese Untersuchung noch spannender gemacht.
Birgit Schmalmack vom 2.9.19