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Samstag

Zigeuner-Boxer auf dem Kaltstartfestival

Schwacher Abschluss
Ruki, ein Held im Ring. Der beste Boxer aller Zeiten, davon ist Hans überzeugt. Doch Ruki hat die falschen Vorfahren. Als Roma kann er nicht für Deutschland in den Ring treten. Er wird als „undeutsch“ aussortiert. Hans, der wie Ruki aus der armen Altstadt kommt und im selben Boxstudio trainiert, trifft ihn im KZ wieder. Dort müssen sie zur abendlichen Belustigung der Aufseher blutige Schaukämpfe austragen. Einer endet mit einer schrecklichen Entscheidung: Hans soll Ruki abknallen und tut es.
Den Boxer Johann Rukeli Trollmann hat es wirklich gegeben. Reiniger erinnert mit ihren prämierten Stück „Zigeunerboxer“ an das Schicksal der Sinti und Roma während der Nazi-Zeit. Leider verhalf die Inszenierung des jungen Regisseurs Frederik Tiden am Stadttheater Karlsruhe diesem starken Text nicht zu seiner gebührenden Geltung.
Tiden versucht Hans’ Unfähigkeit seiner Schuld in die Augen zu sehen dadurch zu zeigen, dass er den Schauspieler Frank Wiegand den Text ablesen lässt. Die Interaktion mit dem Publikum fällt damit aus. Hans kommt mit alten ledernen Boxerhandschuhen auf die Bühne, um seine Unbeholfenheit zum Ausdruck zu bringen. Damit eine Wasserflasche zu öffnen und zu schließen, führt zu Überschwemmungen, die seinen Zettelstapel zusammenkleben lassen. Das wirkt nun leider nicht wie innere Not sondern wie eine missglückte Clownsnummer. Jedes Mal wenn der Name „Ruki“ im Text fällt, schlägt Wiegand mit der Faust auf den Tisch. Klar, er will seine Wut zeigen. Als Hans zum Berichten hinter den grauen Vorhang geht und tänzelnd gegen ihn boxt, hat Tiden ein adäquateres Mittel gefunden. Auch das Abspielen der letzten Sequenz per Kassettenrekorder überzeugt mehr. So wurde Abschlussstück des Kaltstartfestivals insgesamt zu einer der sehr wenigen, schwachen Aufführungen, bei der hauptsächlich der Text beeindruckte.
Birgit Schmalmack vom 15.7.12

Freitag

Corpus Militaris am Freitag auf dem Kaltstart zu sehen

Formenvielfalt
Das Album „DMD KIU LIDT“ der Band Ja, Panik bildet die Anregungs-Grundlage für den „Boulevard der Traurigkeit“, den Regisseur Georg Carstens den Schauspieler Ian McMillan durchhüpfen lässt. Ein sich selbst stilisierender „man of the road“ muss feststellen, dass „die da draußen“ nicht nur die Straße geklaut haben. Doch seine Vorbilder sind die Filmhelden und so lässt er sich von der aufwallenden Depression nicht unterkriegen, sondern bändelt mit der Freiheitsstatue aus Pappe an oder schießt sich den Weg hinter einem Regenschirm frei. Es fallen so beutungsschwangere Sätze wie „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“, deren Anfangsbuchstaben den immer wieder zitierten Albumtitel bilden. Wie aus einer Maschinenpistole feuert Carstens mit Hilfe seines Tausendsassa-Schauspielers seine Ideen im Minutentakt ab. Ein wenig Mut zur Reduktion hätte der Arbeit gut getan und ihre Zielrichtung klarer werden lassen.
„Salamitaktik – ein lustiger Abend“ lässt die Zuschauererwartungen sprießen. Um es gleich vorweg zu sagen: Regisseur Martin Grünheit erfüllt genau diese nicht. Sein Humor sucht zu sehr die absurden Momente, um klamaukkompatibel zu sein. Er schneidet den „Revisor“ von Gogol in kleine Salamischeiben, um diese genüsslich in seine Einzelbestandteile zu zerlegen und neu abzuschmecken. Seine Bürgergesellschaft, die hier vom Revisor begutachtet werden soll, entlarvt sich durch ihre verschwörerische Panik und anheischende Unterwürfigkeit gleich selbst. Sie nehmen nicht nur ihr Pappdorf auseinander, sondern tauschen ihre bunten, aufgemotzten Bürgerkostüme auch gegen entblößende Plastikfolienkleider. Große aufgerissene Augen, abgehackte Sprechweise, exzessive Körperlichkeit und eine dezidierte Gruppenchoreographie sind nur einige der spannenden Stilmittel, die Grünheit verwendet. Keine einfache Aufgabe für die Schauspieler. Besonders die männlichen Darsteller schafften es, die Absurditäten ihren Rollen voll zur Geltung bringen.
Die Performance "Corpus Militaris" des Mehrsichttheater Braunschweig ist von klarer Ästhetik und stringentem Formwillen geprägt. Eine Frau steht im Scheinwerferkegel. Ihr weißgeschminktes Gesicht wirkt wie eine Maske, ihr rotes Kostüm wie eine hochgeschlossene Uniform. Zu den Klängen, in denen immer wieder laute Einschläge und einzelne Gesprächsfetzen zu hören sind, bewegt sie sich wie ein ferngesteuerter Roboter. Abgehakte Bewegungen, Verharren in einer Stellung, schnelle Drehungen, Einklappen des Körpers, Wegducken, Hinfallen.
Christian Weiß betritt ganz in Schwarz die dunkle Bühne. Mit einer Stablampe fährt er sich wie mit einem Scanner über den Körper. Wenn Verena dieses Element in ihren Tanz später mit aufnimmt, wird es noch dynamischer eingesetzt. Wie im Suchscheinwerferlicht werden ihre Bewegungen nur kurzfristig sichtbar. Eindrucksvoll auch ihre Sequenz, wenn sie eine Holzpuppe mit raschen, mal zärtlichen, mal gewalttätigen Handstreichen ganz nach ihrem Willen formt. Als Christians Gesicht hinter ihr auf der Rückwand erscheint, beginnt ein Schattenspiel, in dem die kleine Frau den raumfüllenden Kopf mit winzigen Gesten manipulierend verdrängt. Die Textteile, die Weiß vorträgt, fokussieren die Thematik des Abends: Der ideale Kampfanzug von morgen offenbart die Entmenschlichung bis hin zur Kleidungsebene und die Armeewitze legen eine makabere Humorfolie über das gezeigte Grauen. Doch noch faszinierender und vereinnahmender ist Verena Wilhelms Tanz. Assoziationen überströmen den, der ihr zuschaut, schon ohne weitere Zugaben. Eine atemberaubende Arbeit!
Birgit Schmalmack vom 13.7.12

Donnerstag

Dido und Aeneas Im Kaltstart-Finale

Vielfalt
Auf der Wäscheleine hängen die wollenen Kostüme für die Darsteller von „Dido und Aeneas“. Erst auf der Bühne schlüpfen sie in ihre Wickelschals, unter ihre Wollrüstung, in ihre Strickkleider und Rockhosen. Aeneas, der fremde Krieger, taucht auf. Dido, die Königin, verliebt sich heiß und innig in ihn. Doch die beiden Liebenden müssen sich trennen; ein Auftrag ruft Aeneas fort.
Der Held Aeneas bleibt ein Fremder, der nicht singt. Während die anderen ihren Kummer, ihr Leid und ihre Liebe in der wunderschönen Musik von Henry Purcell Ausdruck verleihen dürfen, muss er auf Englisch mit starkem Akzent radebrechen. Doch man findet andere Formen der Kommunikation. Die Darsteller lassen ihre Körper, Hände und Gesichter sprechen. Selbst durch ihre Kostüme können sie sich ausdrücken, wenn eine von ihnen ihre Ärmel ausfährt und als Hexe für viel Sturm sorgt oder ein anderer sein Gesicht komplett unter seiner Kapuze verhüllt. Als Aeneas zum Schluss Didos Schicksal bestimmt, zieht er einfach am Faden ihres Grobstrick-Kleides und fängt an es aufzuribbeln. Der angehende Musiktheater-Regisseur Benjamin van Bebber lotet in seinem letzten Studienprojekt die Beziehungen zwischen Gruppe und Individuum, zwischen Fremdheit und Nähe in einer klug choreographierten, intensiven Inszenierung aus.
In „The Making of Make-Up“ liefern Tobias Herzberg und Felix Utting einen gelungenen Balanceakt. Ihr Abend über Transsexualität changiert geschickt zwischen Revue und Erfahrungsbericht, zwischen Witz und Fakten. Im Mittelpunkt steht der junge, noch unentschiedene Markus Schlachter, der sich im Laufe des Stücks zu Pusserly Seidenberg entwickelt. „Tunten sind weiblicher als Frauen“, findet Markus und gibt sich alle Mühe. Die glamouröse Dragqueen Felix steht ihm dabei gern mit Tipps zur Seite. Gleich zu Beginn legte sie einen perfekten Auftritt hin. Doch bald beginnt der BH auch bei ihr zu rutschen und die Perücke fällt herunter. Als Korrektiv auf der Bühne dient Noo Steffen, die trotz aufgemalten Schnurrbarts und in Komik-T-Shirt nichts tun muss, um Frau zu sein. Die Inszenierung berührte, weil sie mit dem Lachen das Nachdenken anstieß.
Birgit Schmalmack vom 12.7.12

Mittwoch

"Sauerstoff" von den Landungsbrücken Frankfurt auf dem Kaltstart Festival


Große Fragen

Was treibt eine Mutter dazu ihre Kinder zu ermorden? Dieser Frage geht die junge Regisseurin Sarah Kortmann mit ihren drei Schauspielern in ihrer „Medea“-Inszenierung nach. Kinder können ganz schön anstrengend sein! Das beweist schon die Eingangsszene mit drei Kindergartenkindern, die mit ihrem lauten Geschrei nicht nur sich selbst nerven.
Doch solche Probleme bewegten Medea wohl weniger, als sie feststellen musste, dass der Jason, für den sie alles aufgegeben hatte, sie wegen einer Jüngeren sitzenlässt. Als sie auch noch des Landes verwiesen wird, sinnt sie auf bitterste Rache, die sie zum Äußersten treibt. In der letzten Einstellung dreht sie fast zärtlich ihrem Kind den Hals um. Aktuelle Meldungen von Kindstötungen werden zwischen den einzelnen Szenen aus dem Off eingeblendet. Dass die drei Schauspieler die drei Rollen untereinander rotieren lassen, ist eine spannende Idee. Leider sind dieser Herausforderung nicht alle gleich gut gewachsen. Auch der Sinn der bewussten Zerstörung von intensiven Momenten durch zwischengeschobenen Klamauk wird in dieser Arbeit nicht ganz deutlich.
Umso eindrucksvoller war die folgende, ganz in sich stimmige Produktion von den Frankfurter Landungsbrücken. Alex kommt aus der Provinz in die Großstadt und verliebt sich dort in die rothaarige Alex. Er spürt sofort, dass sie den „Sauerstoff“ hat, den er in seinem Leben so dringend benötigt. Er stürzt sich mit einer solchen Unbedingtheit in die Möglichkeit einer Begegnung mit ihr, dass jede Frage nach Moral zweitrangig wird.
Es gibt auf der Bühne eine „Sie“ (Isabelle Barth) und einen „Er“ (Karl Walter Sprungela), doch ob dies tatsächlich Alexandra und Alexander sind, bleibt bis zum Schluss unklar. Denn Iwan Wyrypajews Stück „Sauerstoff“ schlägt viele gedankliche Kapriolen. Es ist ein wuchtiger Text, der kaum ein Thema auslässt. Gott, Umwelt, Werte, Liebe, Sex, Religion, zu allen gibt Er das Stichwort vor und Sie steigt in die Wortschlacht mit ein. Von ihren beiden roten Podest-Standpunkten aus streiten sie sich wortgewaltig und inhaltsschwer. Hinter ihnen thront die göttliche DJane in ihrem kurzen Nonnenkleidchen und startet zum Einstieg in jedes der zehn Kapitel einen kurzen Techno-Track. Die großartigen Schauspieler schleudern ihre messerscharfen Sätze mit so großer Präzision und Energie hin und her, dass sie die Spannung über neunzig Minuten auf höchstem Niveau halten konnten. Jubelnder Applaus des Festival-Publikums!
Birgit Schmalmack vom 10.7.12

Dienstag

wohnen.unter glas vom Nationaltheater Mannheim auf Kaltstart

Unmöglichkeiten der Liebe
Hatte Max (Matthias Thömmes) den Zenit seines Lebens etwa schon erreicht, als er in seiner damaligen WG diese eine Nacht mit Jeani (Sabine Fürst) erlebte? Manchmal kommt es ihm so vor, dass seitdem eine Glasplatte über sein Leben gestülpt worden sei. Wie eingefroren sind in "wohnen. unter glas" die drei WG-Genossen (plus Luisa Stachowiak) von einst in ihren Gedanken, Gefühlen und Beziehungen. Am liebsten würden sie ihr Cliquen-Gefühl beim Wiedertreffen einfach aus der Kühltruhe auf der Bühne ziehen und bei den zuvor verpassten Chancen wieder einsteigen. Doch das Objekt der Begierde der beiden Frauen Max friert bei jeder Kontaktaufnahme ein.
Der geniale Text von Ewald Palmetshofer lotet die vielschichtigen Beziehungsunmöglichkeiten zwischen den Beteiligten intelligent aus. Regisseur Robert Teufel lässt seine Schauspieler in den Sog der Monologe zu dritt hineingleiten, bis sie im Schnee ausrutschen. Ein begeisterndes Gastspiel des Mannheimer Nationaltheaters!
Mit der abwesenden Liebe beschäftigte sich auch die zweite Mannheimer Produktion „Missing body“. Der Geliebte ist nicht da. Trotzdem soll man für die Außenwelt kompatibel erscheinen. Bis Isabelle Barth beim Zählen bei acht angekommen ist, hat sie ihren vor Schmerz gekrümmter Körper wieder in die Aufrechte gebogen und sich ein Lächeln ins Gesicht gezogen. Doch schon bei neun fällt die Fassade schon wieder in sich zusammen.
Die Textstränge von drei Liebesgeschichten verweben sich in der Performance von Isabelle Barth und Nicole Schneiderbauer zu einem assoziativen offenen Raum. Führt der doppelköpfige Mann eine ganz „normale“ , vielleicht sogar ideale Ehe mit seinem Frauenkopf, den er wie eine Nebelleuchte stets mit sich herumträgt? Nur acht Minuten wird sie von ihm getrennt sein; denn acht Minuten lebt sie noch weiter, als er stirbt. Das Klicken der Uhr gibt in Silvia Plath’ wehmutsvollen Liebesgedicht den Rhythmus vor. So tickt auch das Metronom auf der Bühne. Die Beziehung von Renate Rubinstein mit ihrem Geliebten Simon bestand zum großen Teil aus Sehnsucht und vielen Briefen. Barth setzt sich zum Vorlesen an die altertümliche Schreibmaschine.
Diejenigen, die vor der Aufführung den bereitliegenden Flyer gelesen hatten und wussten, dass ihr die Erinnerungen von Renate Rubinstein über ihre intensive Fernbeziehung zu Simon Carmiggelt zugrunde lagen, waren klar im Vorteil. Die anderen waren genötigt, die entstehenden Leerstellen selbst zu füllen.
Birgit Schmalmack vom 10.7.12

Mittwoch

Wir sind nicht das Ende Birgit Unterweger vom Centraltheater Leipzig

Die menschlichen Krisen
Am Mittwoch ging es um persönliche Krisen. Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ liest der Regisseur Boris Motzki vom Staatstheater Darmstadt als Coming-of-Age-Geschichte. Ein junges Mädchen verliert im Zuge der Ereignisse seine Kindheit und seine Unschuld. Sie entschließt sich auf die Bedingung des älteres vermögenden Herren einzugehen: Wenn sie sich für ihn nackt auszieht, bekommt ihr Vater den Geldbetrag, der ihn vor der Verhaftung bewahrt. Der innere Monolog wird von Anne Hoffmann im beeindruckenden Alleingang auf die Bühne gebracht. Sie spielt die Ambivalenz der Mädchenfrau in allen ihren Facetten: Ihre beginnende Weiblichkeit, ihre Scham, ihre Angst, ihren Trotz, ihre Verletzlichkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Lebenslust und ihre Todessehnsucht. Die Text-Fassung des Regisseurs bleibt sehr dicht am Original. Das erweist sich aber als hinderlich, um die Aspekte der äußerst aktuellen, zugrundeliegenden Thematik, wie schnell der Mensch zur Ware werden kann, wirklich ausloten zu können.
Die Ausgangsgeschichte zu „Wir sind nicht das Ende“ hat einen dramatischen Anlass: den 11. September. Ziad war einer der Attentäter. Dieser Erkenntnis muss sich seine Ehefrau Ayse plötzlich stellen, als die BKA-Beamte plötzlich an ihrer Tür stehen. Ihr Ziad, der ihr noch in seinem letzten Telefongespräch kurz vor seiner Tat immer wieder seine Liebe beteuerte. Carsten Brandau nimmt dieses Szenario, um in seinem Text der Frage nachzugehen: „Wie kann ich jemanden lieben, den ich nicht kenne?“ Regisseur Manuel Harder folgt ihm darin in seiner Inszenierung am Centraltheater Leipzig.
Ayse muss schmerzvoll erkennen, dass ihre Beziehung weniger auf Realität sondern auf Illusion gegründet war. Ihrer gegenseitig versicherten Liebe wird der Boden auf drastische, nicht zu leugnende Art unter den Füßen weggezogen. Ayse muss sich der Verarbeitung dieses Verlustes stellen, um ihr Leben weiterleben zu können.
So wird der Raum zwischen den Zuschauerreihen zur sandbestreuten Kampfarena zwischen Mann und Frau. Ayse streitet sich mit dem toten Ziad bis aufs Blut. Für ihn geht es um das Paradies, für sie um ihr Überleben. In der Umsetzung mit Birgit Unterweger und Günther Harder gerät dies zu einer Tour de Force, die keine Schonung kennt. Die unbedingte Exzessivität der letzten Szenen stellte nur noch die Emotionen in den Mittelpunkt. Die spannenden Fragen des Textes wurden bei soviel theatralischem Aktionismus leider in den Hintergrund gedrängt.
Birgit Schmalmack vom 4.7.12

Montag

Die Geschichte meiner Einschätzung auf dem Kaltstartfestival

Spannende Momente

Es ging um die Momente, kurz bevor Musik entsteht. Vendula Novakova spürte ihnen in ihrem Studienprojekt „Aufbau eines Bildes“ mit einem Pianisten, einer Sängerin, einer Tänzerin und einem Komponisten nach. Momente der Spannung werden aufgebaut, bis einer anfängt zu tanzen, zu singen oder zu spielen. Gefühle der Lust, der Sinnlichkeit, der Wut oder der Eifersucht brechen sich ihre Bahn in den Kanälen der Musik. Novakova lässt die Emotionen geschickt durch kleine Gesten, kurze Interaktionen oder Einwortsätze entstehen. Sie beweist schon in ihrem ersten Studienprojekt ein erstaunlich gutes Gespür und Talent für Tempo, Rhythmus und Stimmungen. So wurden nicht nur ein Bild sondern viele Bilder auf der schwarzen Bühne erzeugt.
Grete Pagan benutzte für ihre Diplominszenierung „Und woher weiß ich, wer ich bin?“ ebenfalls das Mittel der Collage. Sie erforschte den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität. Bin ich das, was ich erinnere? Wer bin ich, wenn mein Gedächtnis versagt? Konsequent für die sprunghaften Neuronenverknüpfungen des Gehirns legte sie ihr Stück ohne die klassische Bühne-Zuschauer-Situation sondern als offene, begehbare Performance an. Von überall konnten plötzlich die Stimmen der Erinnerungen an Kinderspiele, Film, Musiktitel oder Ereignisse kommen. Geskonnt wurden sie ineinander verschnitten und von insgesamt zehn Mitwirkenden in einem sehr dichten, überraschenden Erinnerungsparcour erzählt. Jede der Zuschauer wird andere Bilder, Geschichten und Erinnerungsgegenstände (seien es nun Federn oder gelbe Überraschungs-Eier) mit nach Hause genommen haben.
„Mir geht es gut.“ Ein Mann sitzt mit seinem Alter Ego auf dem himmelblauen Sofa. Doch die Schräglage des Sitzmöbels auf dem Bühnenpodest wird zur Metapher für seine allmählich sich verdüsternde Sicht auf die Großwetterlage der Welt. Diese bekommt Risse. Der untere Mittelschichtsmann hat eigentlich Schulden, seinem Sofa fehlen zwei Füße, in seine Beziehung herrscht Gewitterstimmung und in seinem Wohnzimmerboden klafft plötzlich ein Krater. PeterLicht hat die Befindlichkeit der westlichen Wohlstandgesellschaft inmitten von Klimakatastrophe, Krieg, Finanzkrise, 50%-tiger-Scheidungsrate und Terroranschlägen in „Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends“ messerscharf auf den Punkt gebracht. Jakob Weiss hat den inneren Dialog durch die zwei Schauspieler in einen äußeren verlegt. Er lotet gezielt die absurd-komischen Momente ihrer apokalyptischen Vorstellungen aus. Die Anklänge an den 11. September im Text visualisiert er, indem er die Zwei in New-York-Schaumstofffliegern in ihr Sofa stürzen lässt. Mögliche Düsterkeit lässt sich so einfach weglachen. Zum Glück stellt sich zum Schluss heraus: Alles gar nicht passiert, die Türme stürzen erst am Nachmittag ein. Vorher kann man noch in aller Ruhe Gartenmöbel kaufen gehen.
Birgit Schmalmack vom 9.7.12

Sonntag

Tschernobyl mit Jessica Higgins Foto by Patrick Pfeiffer

Kontrastprogramm aus Tübingen
Das Landestheater Tübingen war mit zwei Stücken vertreten. Was mit einer trashigen B-Komödie über einarmige Gangster begann, endete mit einem berührenden Monolog über Liebe und Tod. „Eine Enthandung in Spokane“ wurde text- und genretreu von Peter Walgramm in Szene gesetzt. Ein Killer ist seit einem Vierteljahrhundert auf der Suche nach seiner einst abgeschnittenen Hand. Wie ein Dealerpärchen und ein Rezeptionist in seine makabere Suche verwickelt werden und um ihr Leben fürchten müssen, liefert den Anlass für allerlei sprachgewitzte Seitenhiebe auf die Splatter-B-Movie-Szene. Der Rezeptionist darf dem Stück die ironische Doppeldeutigkeit geben, die ihm erst den richtigen Drive verleiht. Etwas mehr Trash hätte bei dieser allzu braven Arbeit ruhig sein dürfen!
„Tschernobyl- eine Chronik der Zukunft“ beruht auf einem dokumentarischen Interview mit der Ehefrau eines Feuerwehrmannes, der als einer der ersten in das Kraftwerk gerufen wurde. Ohne Schutzkleidung wurde er so verstrahlt, dass er innerhalb von 14 Tagen starb. Seine Frau weiß nicht, ob und wie sie davon erzählen kann. Doch dann fängt sie an vom Tod und von der Liebe zu berichten und wie sie zusammenhängen. Denn erst im Unglück erkannte sie ihre übergroße Liebe zu ihrem Mann. Trotz ihrer Schwangerschaft und den Warnungen der Ärzte kriecht sie zu ihm unter das Sauerstoffzelt und hält tagelang seine Hand. Die Apfelsine, die er ihr schenkt, isst sie ganz auf. Das macht auch die Schauspielerin Jessica Higgins auf der Bühne. Minutenlang schält und isst sie die Frucht - einer der ganz stillen Momente in der Inszenierung von Inga Lizengevic, von denen es wunderbarer Weise sehr viele gibt. Higgins erzählt ganz unaufgeregt und schlicht von dem Sterben ihres Mannes. Ihre Welt ist zusammengeschrumpft auf einen einzigen Menschen. Ihre Entscheidungen sind nur von ihm und ihrer Liebe zu ihm bestimmt. Ihre Zukunft und die des werdenden Kindes haben für sie ihre Bedeutung verloren. Die Inszenierung vermeidet klug jede Rührseligkeit oder jeden Pathos, sie lässt die Worte dieser jungen Frau ganz für sich sprechen. Nur der Musiker Sebastian Deufel liefert dazu einzelne uneindeutige, irritierende Geräusche vom PC oder Schlagzeug. Wenn sich die Frau mit ihrem Mann zwischen Boden und Trommel imaginäre Klopfzeichen hin und her sendet, erzählt das ein kleines, schönes Detail.
Birgit Schmalmack vom 8.7.12

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Samstag

"Atropa" auf dem Kaltstart-Festival vom Theaterdiscounter Berlin



Marketing des Krieges

Agamemnon (stark: Beat Mari) steht kriegsbereit mit seiner riesigen Flotte, um gegen das allzu mächtig werdende Troja in die Schlacht zu ziehen. Der Anlass dazu wurde ihm zum rechten Zeitpunkt geliefert: Die schöne Griechin Helena wurde von einem Trojaner entführt. Doch nun herrscht Flaute. Die Götter werden befragt: Sie verlangen ein menschliches Opfer. Der Staatsherr weiß sofort, welches gefordert ist; er muss seine Tochter Iphigenie (einfühlsam: Susanne Bormann) hergeben. Sie, ganz brave heimatbewusste Tochter, ist dazu bereit als Märtyrerin zu sterben.
Um den einzelnen männlichen Führer herum hat Tom Lanoye die weibliche Verschiebemasse angeordnet. Fünf Frauen stehen für die Durchführung der männlichen Machtinteressen zu Verfügung. Sie klagen, aber sie widersetzen sich nicht und machen sich damit schuldig. Regisseurin Anna Schäfer vom Theaterdiscounter aus Berlin stellt ihre Inszenierung klar in den antiken Kontext, die aktuellen Bezüge lässt sie nur dezent mit anklingen. In den klassischen Kleiderschnitten der Frauen, die auch in heutigen Boutiquen hängen könnten, wird die Zeitlosigkeit der angesprochenen Fragen von Macht und Einfluss mit Hilfe von Gewalt und Krieg angedeutet. Dass Agamemnon in seine manipulativen Reden auch Worte von Bush und Rumsfield mit einfließen lässt, könnte man fast überhören. Das Bühnenbild aus Baumstämmen, die mit einem Seil zusammengebunden die scheinbar stabilen Staatsgebilde symbolisieren, war schlicht und dennoch aussagekräftig. Eine ruhige und konzentrierte Aufführung, die dieselbe Haltung auch von den Zuschauern einforderte.

Freitag

Kriemhild - in Bombenstimmung Katja Uffelmann vom Theater Rottstraße 5 aus Bochum

Die Welt verändern

Eine Frau nimmt Rache. Das muss sie, um ihre Würde zu behalten. Dafür nimmt „Kriemhild – in Bombenstimmung“ kaltblütig den Tod fast ihrer gesamten Familie in Kauf. Sie will damit den Verrat ihrer Brüder und den Mord an ihrem Mann Siegfried sühnen und sich der Gestaltung ihres Lebens wieder selbst ermächtigen. In Ulf Goerkes und Matthias Wulsts Bearbeitung des Hebbeltextes wird Kriemhild zu einer ganz heutigen modernen Frau, die für ihre Rechte überaus kämpferisch eintritt. Für ihre Selbstachtung braucht sie die Rache an dem Mörder ihres Mannes Hagen. In dem transparenten Overall stellt sie selbstbewusst und trotzig ihre Weiblichkeit zur Schau. Erst zum Schluss ihres furiosen, reinknallenden Monolog als glühender Racheengel verlässt Katja Uffelmann ihr ein mal zwei Meter großes Podest, streift sich ein buntes Kleid über und startet zur Reise ins „Land der letzten Dinge“. Dass sie zu einem Neuanfang in der Lage sein könnte, wie sie mit ihren leichtfüßigen Tanz zur Popmusik vorgaukelt, mag man aber nicht hoffen.
Nur zwei Stücke starten in der Sparte Kaltstart Jung, eines davon war „Feiert! Facebookt! Folgt!“ In der Auftragsarbeit vom Stadttheater Bremerhaven beschäftigen sich vier junge Leute mit der Frage: Warum machen wir denn nichts? Das wiederum machen sie überaus kurzweilig und unterhaltsam. Und dennoch ernüchternd: Man möchte so gerne einen schwebenden Zustand erreichen, aber warum bekommt man dann nicht einmal seinen Hintern aus dem Sofa gehoben? Die Gedankenspiele haben einen hohen Wiedererkennungswert. Werte sind ja was Schönes, die Frage ist nur welche? Sind wir nicht alle eigentlich nur Mittelklasse-Schlampen, die die Beine für jeden Konsumquatsch, für jede Karriereaussicht und jedes oberflächliche Glücksversprechen breit machen? Die Bandeinlagen, die die vier zwischendurch geben, sind nicht so mitreißend wie die witzigen Texte, in denen sie gegenseitig ihre Eigenheiten gekonnt auf die Schippe nehmen.
Birgit Schmalmack vom 6.7.12

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Donnerstag

Warum das Kind in der Polenta kocht von und mit Mira Tscherne vom Stadttheater Bremerhaven



Wo ist das: Zuhause?
„Heimat ist der Geruch des Essens, das meine Mutter zubereitet.“ Die Stimme kommt aus dem Gefrierschrank, dessen Klappe nur einen Spaltbreit geöffnet ist. Erst allmählich wagt sich der Kopf dazu heraus. Das kleine Mädchen möchte am liebsten die Wohnwagentür, in dem sie mit ihrer Familie wohnt, geschlossen halten. Denn draußen ist das Ausland. Die Zirkusfamilie ist aus Rumänien geflohen. Die Angst um ihre Mutter begleitet sie ständig, denn sie ist die Frau, die an ihren Haaren von der Zirkuskuppel herabhängt und noch vor dem Abendessen abstürzen könnte.
Mira Tscherne vom Stadttheater Bremerhaven zeigt mit „Warum das Kind in der Polenta kocht“ ein beeindruckendes, selbst erarbeitetes Solo. Jede Facette dieses unglaublich starken Mädchens, das ohne Schulbildung und ohne stabile Bezugspunkte ihr eigenes Überleben sicherte, wurde in klaren Bildern und einfühlsamem Spiel sorgsam herausgearbeitet. Morgen gibt es noch eine Möglichkeit dieses wunderbar poetische Stück in Hamburg zu sehen.
Dagegen bleibt „Being Lenz“ ein kleiner charmanter performativer Versuch sich dieser Figur Büchners zu nähern. Zwei der ursprünglichen drei Schauspieler wollen sich unter der Regie von Carolin Millner auf die Suche nach dem Lenzgefühl begeben. Doch zunächst einmal wird von einer Bühne berichtet, die nur in der Vorstellung dieser Zwei vorhanden ist. Hier solle man sich einen riesigen Schaumberg vorstellen, hier eine Archivwand, hier ein Bettgestell und dort hinten ein Kreuz aus Pflanzen.
„Alle da? Jetzt fangen wir an!“ rufen sie dann. Zuerst wird die bis dahin noch leere „Archivwand“ mit Fundstücken beklebt. Dann die Kostüme aus dem Pappkarton geholt. Doch das Leben dieses ominösen Lenz, der eines Tages in die Wälder verschwindet und schwer an seinen zahlreichen Seelenqualen leidet, bleibt schwer fassbar. Die Schlaflosigkeit und seine Flucht in die Religiosität werden zu konkreten Anhaltspunkten, in denen Thomas Strecker Lenz' Zerrissenheit zur Geltung bringen darf. Da mag er noch so sehr sein Kopfkissen winden, der Schlaf will einfach nicht kommen. Da kann er noch so inbrünstig beten, der Friede will sich nicht einstellen. So werden diese partiellen Einfühlungsversuche zu einer Dokumentation des Scheiterns; das „Lenzgefühl“ will sich einfach nicht einstellen.
Birgit Schmalmack vom 5.7.12

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Dienstag

Das blaue, blaue Meer vom Hoftheater Nürnberg

Krisen des Zusammenlebens
Am Dienstag standen die menschlichen Krisen im MIttelpunkt.
Eine weiße kahle Bühne, ein paar Monoblocks und viele Pappbuchstaben. Autor Nis-Momme Stockmann hat versucht die Welt einer deutschen Hochhaussiedlung mit Worten zu beschreiben. Er bedient sich dabei ausdrücklich nicht der Sprache der Arge-Empfänger sondern seiner eigenen. So ist die Nürnberger Inszenierung von Ulf Goerke sehr konsequent. Er treibt den Grad der Distanzierung noch weiter. Er lässt die drei Rollen zwischen den drei Schauspielern wechseln. Er lässt die beschreibenden Texte von ihnen offen einsprechen. Der Soundtrack der Siedlung wird von den Drei auf der Bühne mit einem Sampler selbst fabriziert.
"Bin ich schuld?", das fragt sich Darko in der trostlosen Hochhaussiedlung immer wieder. Erst Motte, die Prostituierte der Siedlung, lässt ihn über ihren Rand hinaus denken. Sie lässt ihn hoffen, dass er sich einen Traum in der Hoffnungslosigkeit um sich herum erlauben darf und nicht nur versuchen muss, sich das Gedächtnis aus dem Kopf zu trinken. Kurz vor Schluss sind die Sterne auf dem Bühnenviereck zu sehen, die Darko sich erträumt hatte. Doch sie bleiben eine Projektion. Die Siedlung hat selbst Motte so geschliffen, dass sie die Hoffnung verliert. So muss auch Darko in der Siedlung bleiben und wird das „Blaue, blaue Meer“ nie sehen.
Der Höhepunkt des Dienstags war aber „Das Produkt“, in dem ein Filmproduzent seine Wunschschauspielerin von der Güte des von ihm ausgewählten Stoffes überzeugen will. Das ist keineswegs eine einfache Aufgabe, denn er handelt von einer New Yorkerin, die beim 9/11 ihren Freund verlor, sich dann aber in einen Islamisten verliebt und für ihn schließlich in den Tod gehen will. Kultautor Mark Ravenhill führt in seinen Text die Denke der Medienwelt gekonnt vor, indem er Rassismen, Rollenklischees und Vorurteile durch die Person des Produzenten ohne ideologischen Filter darstellen lässt. Dem Schauspieler Henrik Vogt gelingt in seinem Solo das Kunststück trotz Fehlen jeglicher Identifikationsfigur die dargestellten Personen ernst zu nehmen und dabei die Absurdität ihrer Denkweise dennoch deutlich zu machen.
Birgit Schmalmack vom 3.7.12

Montag

Norway Today auf dem Kaltstart Festival

Überleben!

Der Montag beschäftigte sich mit dem Überleben. Zuerst aus der ganz existenziellen Seite von afrikanischen Flüchtlingen, die als „Boatpeople“ die Küsten Europas erreichen wollen. Das Schauspielhaus Graz entdeckte hier unter der Regie von Christine Erler „Antike Flüchtlingsdramen im Mittelmeer“. Ihr engagiertes Schauspielerteam hatte die Insel Lampedusa besucht, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Ihre Unfähigkeit sich als satte weiße Europäer adäquat in die Rollen von schwarzen Flüchtlingen einzudenken, führte zur Flucht nach vorne: Sie spielen im ersten Teil die allseits bekannten Klischees einerseits der dummen, arbeitsscheuen, sich ständig vermehrenden Schwarzen und andererseits der feisten, vorurteilsbehafteten, ignoranten Weißen. Sie führen sie so ungefiltert vor, dass die Wut im Zuschauer vorprogrammiert ist. Er soll den Spiegel vorgeführt bekommen. Da sie in diesem Teil aber komplett auf Brüche verzichten und sich so platter Darstellungsweisen bedienen, wirkt es zu absichtsvoll um spannend zu bleiben.
Das Kontrastprogramm folgt dann gut eine Stunde später umso deutlicher in den beiden folgenden Teilen. Eine Lesung von Flüchtlings-O-Tönen führt ebenso so wie der abschließende Doku-Film ihrer Lampedusa-Reise so drastisch den Ernst vor, dass auch dieser drastische Schockmoment allzu vorprogrammiert erscheint. Eine Verschneidung der einzelnen Teile mit echten Menschen auch im ersten Teil hätte die gewünschte theatralische Wirkung erhöhen können.
In „Norway.Today“ verabreden sich zwei junge Leute im Netz zum Selbstmord. Gemeinsam wollen sie den letzten Sprung in den Abgrund machen. Dafür haben sie sich einen norwegischen Fjord ausgesucht. Doch unverhofft kommen sie sich bei diesem eisigen endgültigen Schritt so nahe, dass ihnen die Gründe dafür ausgehen. Wie Regisseurin Petra Schiller vom Staatstheater Kassel das mit ihren beiden tollen Schauspielern in Szene setzt, hielt auch zu später Stunde die Zuschauer problemlos wach. Sie holt aus dem dramatischen Stoff die Absurdität heraus, die der Konstellation eigentlich zugrunde liegt. Ihr August (Aljoscha Langel) ist ein hyperaktiver Freak, der bisher keinen rechten Platz für seine Andersartigkeit fand. Julie (Anna-Maria Wirsch) ist eine blonde kühle Schönheit, die glaubte alles im Leben schon erlebt zu haben, so dass es ab jetzt nur noch bergab gehen könnte. Dass diese beiden skurrilen Personen doch noch den Draht zueinander finden sollen, verblüfft so sehr, dass für Spannung bis zum Schluss gesorgt war.
Zum Ende dieses Festivaltages wurde das erste Mal das „Echolot“ eingeschaltet. Täglich sollen nach der letzten Vorstellung in der frisch renovierten Lounge des Kulturhauses 73 Publikumsgespräche stattfinden, in denen Zuschauer und Mitwirkende Gelegenheit zum Austausch über die gesehenen Stücke haben. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Zu mitternächtlicher Stunde soll in einer anvisierten halben Stunde über drei oder mehr Stücke gesprochen werden. Da können Gesprächsinhalte nur angerissen und einzelne Eindrücke nicht ausdiskutiert werden. Dennoch ein Format, das für ein Netzwerkfestival wie Kaltstart wichtig ist und mit dem in verschiedenen Variationen Erfahrungen gemacht werden sollte.
Birgit Schmalmack vom 2.7.12

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