Karamasow
Ringen mit Gott
Allesamt sind sie Verwundete, Versehrte, Verzagte und Bedürftige. Dafür müssen sie nicht unbedingt im Rollstuhl sitzen wie die vierzehnjährige kranke Lisa (Ursina Lardi). Sie können auch eine Robe tragen wie der zwischen Mönchkutte und Ehebett hin- und hergerissene Aljoscha (Devid Striesow), der ebenso in seiner Liebe zu Gott wie zu Lisa Erfüllung finden möchte. Auch der Starez (Jung), der kurz vor seinem Tode steht, hält zwar weiterhin große Predigten über die Allmacht der Liebe, muss aber anerkennen, dass das Tun der Menschen dagegen eher mickrig und eigensüchtig daherkommt. So wie die Mutter Lisas (Ernst Stötzner), die dem Starez gegenüber die Kleinheit ihrer Seele offen zugeben muss. Auch Iljoscha (Lars Rudolph), erst neun Jahre alt, ist sterbenskrank. Selbst in seinem schwachen Zustand will er für seinen Vater (Rik van Uffelen) noch den Retter spielen, weil dieser als Held ausfällt. Kolja (Sebastian Blomberg) offenbart mit seinen dreizehn Jahren dagegen die Selbstsüchtigkeit, Überheblichkeit, die sich aus einer verletzten Kinderseele speist. Dagegen scheinen manche der auftretende Hunde mehr Menschlichkeit zu besitzen. Wenn André Jung Koljas Hund spielt, sagt ein Augenschlag, ein Schnaufer, ein Anstupsen mehr als dessen Redeschwall.
Aus tausend Seiten Karamasow löst Thorsten Lensing gut 100 Seiten heraus, in denen es um die Unergründbarkeiten des Lebens geht. Die Menschen ringen in ihren Beziehungen mit dem Leben, ihren Mitmenschen, ihrem Glauben und mit Gott selbst. Sie offenbaren auf der fast leeren Bühne vor der faltbaren Kupferwand ihre Verletzungen, die ihnen das zum Teil erst kurze Leben zugefügt hat. Denn selbst die Kinder haben ihre Unschuld schon lange verloren. An den Seitentischen warten sie alle auf ihren Auftritt und sind währenddessen aufmerksame Beobachter des Schicksals der Anderen. Sie bleiben immer Teil des Ganzen und sind dennoch vereinzelt. Eine Glocke, die den Schlag vorgibt, schwebt wie Pendel kurz über dem Boden. Einer philosophischer Abend, der sich viel Zeit für die große Schauspielerkunst.
Birgit Schmalmack vom 10.3.15