Distortion, Kampnagel
Verzerrzte Wirklichkeiten
Windgeräusche sind zu hören. Nur ein Hauch zunächst, dann ein Lüftchen, danach Windböen und zum Schluss Sturm. Der dunkelhäutige Mann auf der Bühne wird durch die Gegend gewirbelt. Seine Arme und Beine werden vom Wind angestoßen und in Wellenbewegungen durch die Luft geführt. Der Wind stößt ihn auf den Boden. Doch der Mann lässt sich nicht unterkriegen. Er ist so anpassungsfähig, dass er seine Fortbewegungsmethode organisch den Gegebenheiten anpasst: Dann läuft er eben auf den Knien, robbt auf der Seite oder tanzt rückwärts.
Elektronische Beats fluten die Bühne. Eine Ansammlung von Leuten mit Tourette-Syndromen scheint von ihnen angelockt zu werden. Nervöse Zuckungen unterbrechen immer wieder ihren Gang über die Bühne. Sie sammeln sich zu einem bunten Block. In neu gefundener Gemeinsamkeit vollführen sie völlig synchron und in totaler Stille ruhige, langsame Bewegungen. Doch auch diese Einigkeit wird schnell wieder gesprengt.
Constanza Macras überrascht in ihrer neuesten Arbeit "Distortion" mit der Hip Hop Academy immer wieder. Angeregt durch die ständig wechselnden Musikstimmungen lässt sie auch auf der Bühne immer neue Atmosphären aufbauen, um sie anschließend zu verzerren. Das korrespondiert mit der den Fragen und Statements, die in den Musikcollagen und den Raps anklingen: Trotz der deutschen Geburtscheins aller Tänzer können sie sich nicht sicher sein, hier als Deutsche anerkannt zu werden. Der eine sieht eben nicht typisch deutsch aus, der andere hat einen afrikanischen Vater der dritte einen türkischen Namen.
Eine Sequenz zeigt das eindrucks- und humorvoll: Ein Deutscher in Bärenkostüm geht voran. Ein dunkelhäutiger Tänzer läuft ihm hinter her, laut von „Sunshine“ und Moonlight“ singend und euphorisch tanzend. Doch so sehr er sich auch Mühe gibt, mit seiner überbordenden guten Laune zu beeindrucken, reagiert der deutsche Bär zuerst nur mit betonter Langeweile und zuletzt mit genervtem Verdruss. Noch viele weitere Verfolgungspaare bevölkern bald die Bühne. Einholen können die Nachfolgenden die Vorangehenden aber nie. Das Blatt wendet sich erst, als die Verfolger sich zusammentun und der deutsche Bär auf der andere Seite alleine dasteht. Nun ist nur noch blanke Angst zu sehen.
Constanza Macras hat mit ihrer klugen und mitreißenden Auftragschoreographie die Crew der Hamburger Hip Hop Academy in eine neue Dimension ihrer Arbeit geführt. Denn hier stand nicht mehr nur die Tanztechnik im Vordergrund sondern mit künstlerischem, hinterfragendem Anspruch wurde die Bewegungsvielfalt der Tänzer und Sänger zum reichen Anregungspotential für die einfühlsame und ideenreiche Künstlerin Macras.
Birgit Schmalmack vom 16.2.13