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Der Kirschgarten

Der Kirschgarten auf Kampnagel unter der Regie von by David Baltzer


Ich werd gleich wahnsinnig

Labil ist das Fundament ihrer Existenz. So mürbe wie die Steine, die die Menschen zu Beginn zu einer Mauer aufgeschichtet haben. Alle leisteten ihren Beitrag zum Aufbau ihrer gemeinsamen Gesellschaftsordnung. Ganz so wie im richtigen Leben: Die Arbeiter schaffen mit ihrer Hände Arbeit das Geld für die Gutsbesitzer heran, die sich derweil in klugen Reden, in Nichtstun und Wohltätigkeit ergehen.
Wenn sie denn einmal da sind, und nicht wie die Gutsbesitzerin Ljuba (Ursina Lardi) meist im Ausland weilen. Jetzt ist sie endlich zurückgekommen, denn sie ist pleite. Doch sie kommt zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt. Auch auf dem Gut stehen die Finanzen schlecht: Aufgrund der Schulden muss das Gut und der Kirschgarten verkauft werden. Die bröckelige Mauer stürzt mit lautem Krachen und viel Staubaufwirbelung zusammen. Onkel Leonid (Peter Kurth) leistet mit dem Wasserzerstäuber ganze Arbeit; die ersten Reihen werden sorgsam mit dem Sprühnebel bestäubt.
Ljuba ist die zentrale Identifikationsfigur in dieser Parallelwelt. Sie ist ganz Gefühl. Sie liebt ausgiebig. So liebt sie ihre Angestellten, wenn auch am liebsten aus der Ferne. Sie liebt den ewigen Studenten Petja, der gerne gesellschaftliche Utopien herbeireden möchte. Sie liebt ihre schöne Tochter Anja (Aenne Schwarz), die mit Petja von neuen Welten in einer besseren Zukunft erträumt. Sie liebt ihren Reden schwingenden Bruder Leonid. Und sie liebt vor allen Dingen den Kirschgarten, den sie für das einzig Sehens- und Erhaltenswürdige im ganzen Bezirk hält. Dieser Garten symbolisiert für sie ihre Kindheit, Jugend, Heimat und Rückversicherung.
Als diese Basis zu zerbröseln droht, bedeutet dies für alle, ihr Leben neu ordnen zu müssen. Leonid muss über einen schnöden Arbeitsplatz zum Gelderwerb nachdenken. Die Gutsangestellten verlieren nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Fürsprecher und Unterkunft. Die Töchter können sich nicht mehr auf dem ererbten Geld ihrer Vorfahren ausruhen und müssen sich nach neuen eigenen Lebenszielen umsehen.
Für einen allerdings bedeutet der Verlust der anderen großen Gewinn: der Lopachin (Daniel Striesow) kann die Seiten wechseln. Er als Bauersohn nennt ab jetzt das größte Gutshaus im Distrikt sein eigen. Immer wieder unterstreicht er seinen Triumph-Einzug mit lautem Stampfen auf den Bauplatten. Die ehemalige Hausherrin Ljuba erträgt seinen Gefühlsausbruch stoisch und verletzlich in transparenten Dessous und hat ihm nur scheinbar nichts mehr entgegen zu setzen. Auch Lopachin sind seine Grenzen schmerzlich bewusst: Sein Geld öffnet weder die Türen zu Bildung und Stil noch zu der schönen Frau, die für ihn so zum Sinnbild des Unerreichbaren wird.
Das Regieteam Thorsten Lensing und Jan Hein lotet auch mit ihrer zweiten Tschechow-Bearbeitung nach „Onkel Wanja“ alle Gefühlszustände sorgsam aus. Sie legen die Nerven aller Beteiligten zur Betrachtung bloß. Jede Szene erscheint wie eine neue Versuchsanordnung der emotionalen Prüfung. Welche Lebensentwürfe halten stand? Welche Wünsche schimmern durch? Welche Sehnsüchte sollen verdeckt werden? Welche Ängste treiben die Menschen um? Welche Begierden werden nur mühsam unter Kontrolle gehalten? Dabei widmen sich nicht nur den Hauptfiguren sondern nehmen sich in den dreieinhalb Stunden auch viel Zeit für die Nebenfiguren. Das zeugt von penibler Akribie und genauen Blick, Hingezogenheit zu jeder Art von Erregungszuständen und Unbestechlichkeit. Die Geduld der Zuschauer wird belohnt mit schonungslosen Einblicken in Seelenzustände.
Zum Schluss erlaubt eine Lücke in der wieder aufgebauten Mauer einen Blick in die Ferne. Der Kirschgarten wird abgeholzt, aber er wird Neues entstehen. Wenn man Petja glauben darf, könnte sich so über die Jahrhunderte hinweg Veränderung und sogar Fortschritt zeigen.
Birgit Schmalmack vom 26.1.12