Krieg und Frieden, Burgtheater Wien
Theater im Breitbandformat
Eine lange Tafel, die aus vielen quadratischen, aneinander gereihten Tischen und Stühlen besteht, steht im Breitbandformat auf der Bühne. Auf ihr werden sich in den nächsten fünf Stunden Dramen, Leidenschaften und Alltäglichkeiten abspielen. Die Zuschauer in der Kampnagelhalle dürfen die Schicksale mehrere russischer Adelsfamilien während des Koalitionskrieges gegen Frankreich begleiten. Die vierzehn Schauspieler des Wiener Burgtheaters übernehmen dabei jeder bis zu acht Rollen.
Regisseur Matthias Hartmann bezeichnete auch bei diesem Hamburger Gastspiel seine Inszenierung als „Öffentliche Probe“. Erst für den 4. 12.11 habe man sich zur Wiener Premiere durchgerungen. Bei einem fast 2000 Seiten starken Werk als Vorlage ist Vorsicht geboten. So sei ihm ein „work in progress“ als am besten geeignet erschienen, um den Erwartungsdruck an alle Beteiligten zu minimieren.
Eine groß angelegte Soap in drei Fortsetzungsteilen ist so entstanden. Schwelgend in großen Bilder und kleinen Geschichten, die zugleich ein Panorama der Zeit entstehen lassen, widmet Hartmann sich den Schicksalen in kriegerischen Zeiten.
Die russische Gesellschaft feiert sich und ihre Eitelkeiten ungerührt auf ihren Soireen und Opernhäusern, während draußen auf den Schlachtfeldern die Soldaten sterben. Dann und wann schreitet Napoleon (Udo Samel) im Nebel der Kanonenschläge mit Spitzhut durch die Hallentür herein und nimmt huldvoll seinen Sieg auf den Leichen der Gefallenen entgegen. Die gelangweilten Söhne der arrivierten Gesellschaft amüsieren sich entweder mit schönen Damen oder verpflichten sich zur Untermauerung ihrer Ehre in der Armee. Die Frauen harren derweil demütig aus, bis einer der Männer sie freiwillig oder durch die Familie gedrängt in den Stand der Ehegattin erhebt.
Derlei private Alltäglichkeiten im Kerzenschimmer kontrastieren mit düsteren, lauten Kriegsszenen. Erst in ihnen wird Hartmanns Ambition zur Kurzweiligkeit gedeckelt. Wie er mit elektronisch verstärkten Tischen, Brettern und Stühlen ein Konzert des Schreckens entfacht, ist beeindruckend. Die Tändeleien des gesellschaftlichen Lebens werden direkt mit der todbringenden Realität konfrontiert. Das sind die Höhepunkte von Hartmanns Inszenierung, die sich aber bald wieder im sanft dahinplätschernden Herzschmerz verlieren.
Hartmann versteht es mit diesem abwechselungsreichen Mix sein Publikum über die lange Aufführungsdauer geschickt bei der Stange zu halten. Nie ist es langweilig, denn immer wird dem Unterhaltungswert große Aufmerksamkeit gewidmet.
Dass Tolstois Vorlage ein Prosatext ist, wird hier offen gehandelt. Alle Figuren beschreiben ihre eigenen Aktionen erst, um sie danach auszuführen. Natürlich hat man dieses Stilmittel der Doppelung schnell durchschaut und wie ein Fernsehserienzuschauer als verlässliches Element lieb gewonnen.
Bei 1087 Seiten ist Schluss. Wieder erscheint der Regisseur persönlich und fordert alle Personen auf, über ihr weiteres Ergehen zu berichten. Im Stile von „Was dann geschah“ werden die weiteren Geschehnisse am Tisch sitzend referiert.
Gewiss war dieser Theaterabend unterhaltend, kurzweilig, fantasiereich und brillant gespielt auch, aber ob er tatsächlich für fünf Stunden Inhalt bot, darf bezweifelt werden. Er hatte wie jede Fernsehserie seine Wiederholungsschleifen, die das Einfühlen und Mitleiden der Zuschauer möglich machen sollen, aber einer genauen Fokussierung im Wege stehen.
Birgit Schmalmack vom 15.11.11
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