Uncanny valley, Kampnagel
Intelligenter Selbstversuch
Auf der Bühne sitzt ein Mann, wie festgewachsen in einem Polstersessel, neben sich ein Laptop, hinter sich eine Leinwand. Als das Licht langsam heller wird, beginnt er mit seinem Vortrag. Thomas Melle soll hier heute sprechen, über seine bipolare Störung und wie er sie unter Kontrolle zu bringen versucht hat. Als Schriftsteller hat er kreativ umgeformt. "Die Welt im Rücken" ist das Buch, in dem er der Krankheit in eine künstlerische Form gegossen hat. Nun fragt er sich, ob er mit Hilfe der Technik nicht noch weitere Möglichkeiten hätte. Könnte er mit der KI die Kontrolle über sein Selbst komplett zurück erlangen? Doch wäre der Humanoide, der als Abbild von Thomas Melle entstehen könnte, noch er selbst? Ein Selbstversuch soll das zeigen.
Auch wenn der künstliche Körper, der auf der Bühne sitzt, wie Melle aussieht und mit seiner Stimme spricht, seine Mimik nachahmt und seine Gesten macht, nicht wie ein Zombie wirkt, fehlen ihm genau die Merkmale, die ihn zu einem menschlichen Wesen werden lassen. Es sind genau die unkontrollierbaren Momente, die Fehler, die Unvorhersehbarkeiten, die ihn von einer Maschine unterscheiden. Dieser Melle-Ganzkörper-Robot würde den sogeannten "Touring-Test" nicht bestehen. Auch wenn er Melle verblüffend gut imitieren kann, ist er nicht Melle. Das wird spätestens klar, als Melle auf der Videoleinwand selber zu sehen ist. Im direkten Vergleich entlarvt sich die Maschine als eine technische teure, aber dennoch bloße Nachahmung. Sie verblüfft mit seine unheimlichen Ähnlichkeit, die Forscher "Uncanny valley" nennen. Kann ein Mensch sich doubeln lassen und damit ewig weiter leben, als perfektes Double seiner selbst? Doch ist die Konservierung erhaltenswert? Was macht das Leben eines Menschen aus? Seine Unperfektheit, seine Unvorhersehbarkeit? Ist das das, was man vielleicht sogar als Seele bezeichnen könnte?
Diese und viele Fragen mehr kommen beim Zuschauer wie Seifenblasen hoch, während er Melles Vortrag lauscht und sein Double dabei fasziniert beobachtet. Diese neueste Produktion des Rimini Protokolls ist ein überaus intelligenter Beitrag für das diesjährige Sommerfestivals, der weit über sich hinausweist. Da Melle den Text dieses Selbstexperiments dazu verfasste und Kaegi ihn dabei begleitete, wurde daraus ein philosophischer, politischer und dezidiert theatraler Abend, der gefangen mag und Zukunftsvisionen nachfühlbar machte.
Birgit Schmalmack vom 27.8.19