Hauptsache Frei
Frei, anregend und notwendig
Auf dieses Festival scheint die Freie Szene Hamburgs gewartet zu haben. Bis auf den letzten Platz waren schon am Eröffnungsabend auf Kampnagel von "Hauptsache Frei" die Reihen gefüllt. Die Worte der Ballhaus-Ost-Leiterin Tina Pfurr aus Berlin sprachen den anwesenden Künstlern aus dem Herzen: Die Hamburger Freie Szene müsse aktiv gewürdigt und gefördert werden, um durch der Abwanderung der Künstler in die nahe und finanzielle reicher unterstützte Hauptstadt nicht ganz auszutrocknen. Die Festivalleiterinnen Anne Schneider und Sarah Thielacker stellten danach ihr reichhaltiges Programm aus Tagesworkshops und Abendaufführungen an drei Hamburger Häusern vor. Bei Sekt und Selters wurde anschließend eifrig genetzwerkt.
Um Erwartungen geht es am zweiten Abend. Welche Erwartungshaltung eine Stimme wecken kann, führt die Performerin Alyssa Marie Warncke vor. In völliger Dunkelheit hören wir nur ihre Stimme. Sie flüstert, sie droht, sie verführt sie betört, sie lädt ein und sie stößt zurück. Als der Vorhang aufgeht, erscheint eine elegante Frau im Abendkleid. Eine Opernsängerin am Klavier? Doch diese Erwartungen unterläuft sie. Sie stößt nur einzelne Laute aus, spielt mit ihren Mundwerkzeugen, unterstützt oder karikiert sie mit ihrer Mimik. Einzelne Sätze scheinen sich zu formen. Sie erinnern entfernt an etwas. Als sie sich schließlich ans Klavier setzt, wird klar voran: "I feel stupid, And contagious, Here we are now. Entertain us!", der Song von Kurt Cobain. Doch sie sitzt dabei keineswegs brav am Klavier. Sie dreht ihm den Rücken spielend, sie streckt ihre Beine verführerisch über die Tastatur oder sie legt sie quer den Stuhl, immer weiter spielend und singend. Warncke zeigt, was alles mit der Stimme jenseits eines schönen Liedinterpretation möglich ist. Eine beeindruckende Vorführung.
Um Erwartungen, Reaktion und Gegenreaktionen, um Selbst- und Fremdwahrnehmung ging es auch in Jessica Nupens Stück "Lions". Es beginnt mit einer begebaren Installation im Resonanzraum. Eine Mann ordnet Zeitungsschnipsel, um ihrer Sinn zu ergründen. Eine weiße Frau malt sich die Beine schwarz an. Ein schwarzer Mann versucht sich aus weißen Kabelringen zu befreien oder zu verstecken. Eine schwarze Frau stopft sich Wattepads in dem Mund, unter den BH und in die Shorts. Mit den Bildern im Kopf beginnt die folgende Tanzperformance. Die vier Tänzer versuchen sich und ihre Position mit den anderen zu finden. Starten sie zunächst in schwarzen Ganzkörperanzügen, die sie ununterscheidbar machen, entledigen sie sich immer weiterer Kleidungsstücken. Ihre Individualität wird immer weiter sichtbar. Bleiben sie zunächst noch sehr auf Abstand, versuchen dann sich gegenseitig zu messen, finden sie später zu gemeinsamen Tanzsequenzen, die sich in gegenseitiger Aktion und Reaktion entwickeln. Eine sehr energetischer Tanz, der jenseits aller Klischees von Rollenzuschreibungen entlang der Hautfarben bewegte. Eine ausgereifte Arbeit, die im Resonanzraum im Feldstraßenbunker perfekt zur Geltung kam.
Als letztes zeigte Véronique Langlott ihre Performance "Reconstucting", bei der Tanz, Licht und Sound zu einem sich gegenseitig anregendem Gesamtkunstwerk wurden.
Katrin Bethge erschuf an drei Overheadprojektoren den Licht- und Schattenraum für die Tänzerin, die in ihm die Bewegungsmöglichkeiten entlang der Körperachsen untersuchte. Je nach Lichtfülle, die Bethge Langlott zur Verfügung stellte, erschien sie nur halb, war in der Mitte durchgeschnitten, blieb im Dunklen, bekam Raster auf den Körper gemalt, schien sich zu verdoppeln oder zu schweben. Obwohl der Sound sich dreimal wiederholte, erschein er immer anders zu sein, je nachdem wie das Licht und die Bewegungen sich veränderte. Eine Bewegungsstudie, die entlang strenger formaler Kriterien erstaunlich viele Überraschungen kreierte.
An den nächsten Tagen im Lichthof und Monsuntheater bildeten ein Klassiker und ein Tanzexperiment den Mittelpunkt der abendlichen Aufführungen.
Elisabeths Zukunft ist so voll gestellt und wenig nutzbar wie das aufgetürmten Stuhl- und Tischlager auf der Bühne, das von all den Zwangsvollstreckungen anderer Zahlungsunfähiger zeugt. Regisseur Helge Schmidt hat den Klassiker von Ödön von Horváth "Glaube,Liebe, Hoffnung" in einen eindrucksvollen grotesken Totentanz der noch Lebenden verwandelt. Elisabeth ist die einzige unter all den vorhersehbar agierenden Figuren dieses Gesellschaftsspiels, die noch kämpft. Alle anderen sind in ihren karierten Kleidungsstücken schon zu Witzfiguren mutiert. Elisabeth hautfarbene, geschmackvolle, modisch dezente Kleidung betont ihre zarte Schmalheit. Zum Schluss hat auch sie aufgegeben und entschließt sich zum Freitod. Doch nicht einmal einen selbst bestimmten Tod gönnt man ihr. Selbst diesen müsste sie sich von dieser Gesellschaft genehmigen lassen.
Da alle Rollen außer der Elisabeth von den beiden weiteren tollen Schauspielern David Kosel und Günter Schaupp gegeben wurden, war derjenige, der das Stück kannte, klar im Vorteil. Doch auch alle anderen nahmen das Erlebnis eines konzentrierten, inhaltsschweren und spannenden Abends mit.
"Why not" denkt Tanztheater neu. Der Künstler Roland Walter sagt von sich: "Die Menschen nennen mich behindert, und sie haben recht, das bin ich auch." Er ist spastisch gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Er hat mit dem Tänzer Ahmed Soura zusammen eine Performance erarbeitet. Doch der Kontrast zwischen beiden könnte kaum größer sein: Soura ist ein athletischer Künstler aus Burkina Faso, der seinen Körper in jeder Sekunde voll unter Kontrolle hat. Dennoch werden die beiden im Laufe ihrer Performance "Why not" feststellen: Was kann uns trennen, wenn uns die Menschlichkeit verbindet? Regisseurin Francoise Hüsges gibt beiden Performern Raum für ihren eigenen Ausdruck. Jeder bekommt ein Solo. So tanzt Walter in seinem Rollstuhl zu einer schnellen Akkordeon-Musik und Soura breakdanct zu schrägen Elektrobeats. Doch sie tanzen auch zusammen. Dann lässt Soura mit leichten sicheren Fußspitzen den Rollstuhl kreisen und legt sich zu einem Duett unter den Rolli, um Walters Armbewegungen synchron mitschwingen zu lassen. Ein kleiner, feiner Abend ist enstanden, der im Altonaer Monsun Theater weitere neue Programmakzente setzt, die so bisher in Hamburg fehlten. Hüsges umgeht geschickt die Gefahr eines betulichen Wohlfühltheaters und lässt dennoch berührende Momente entstehen.
Am letzten Abend im Onsun Theater wurden die Preisträger bekannt gegeben. Véronique Langlotts Performance "Reconstucting" gewann den Jurypreis und der Publikumspreis ging an Cora Sachs mit "Schöner warten mit Herrn Huber".
Nachdem die ersten drei Jahre des Festivals äußerst erfolgreich über die Hamburger Bühnen gingen, ist auch der nächste Dreijahreszyklus gesichert. Es geht weiter, wenn auch neuer Festivalleitung.
Birgit Schmalmack vom 24.4.17