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Viktor, Kampnagel

Viktor von Pina Bausch _c__Laszlo_Szito

Skurrile Bilderflut

Bühnenhoch türmen sich die Erdwälle am Rand der Bühne auf, die wie ein Ausgrabungsloch erscheint. Von oben wirft ein Totengräber immer wieder Torf in die Mitte. Vielleicht verschwindet diese Welt, in die Pina Bausch mit ihrer Kompanie in "Viktor" Einblick gibt, bald in der Versunkenheit des Vergessens? Sie hatte vor der Entstehung des Stückes ihre Tänzer aufgefordert, bei Arbeitsspaziergängen in Rom nach besonderen Situationen Ausschau zu halten. Es scheint eine reiche Anregungsausbeute gewesen zu sein, die sie mit zu den Proben brachten, denn Pina Bausch kreierte daraus ein dreieinhalbstündiges Stück voller skurriler Szenen, die eine Atmosphäre erschaffen, die sorgsam zwischen Fantasie, Wirklichkeit und Traum angesiedelt ist.
Ein Frau ohne Arme betritt die Bühne. Selbstbewusst lächelnd geht sie auf die Zuschauer zu, bis ihr ein Mann schützend einen Pelzmantel um die Schultern legt und sie von der Bühne begleitet. Männer wickeln eine Frau in einen Teppich ein, während ein anderer ein offensichtlich lebloses Paar miteinander vermählt. Eine Frau erzählt ihrem Mann von ihren Gefühlen, er schläft dabei ein. Eine andere Frau berichtet ihrem Gefährten von großer Einsamkeit mit Hilfe des Märchens von dem Mädchen mit den Streichhölzern. Ihre Stimme schraubt sich dabei zu dramatischer Wut hinauf.
Die Frauen tragen alle lockere Blumenkleider und hochhackige Pumps. Sie präsentieren ihre Weiblichkeit selbstbewusst. Die Männer erscheinen im Anzug. Ihre Rolle ist die des Betrachters, des Begutachters und des Beschützers. Nur selten wird ihnen diese streitig gemacht. Wenn die laute Tuba-Musik ertönt, schleppen so immer zwei Männer eine Frau wie eine Puppe über die Bühne und stellen sie vorne an der Rampe ab. Minutenlang geht das so. Wenig später wird die Musik wieder erschallen. Doch jetzt revanchieren sich die Frauen. Auf ihren hohen Schuhen schleppen sie nun die Männer ab. Als die Musik ein drittes Mal zu hören ist, haben die Männer die Frauen mit ihren Armen kurzerhand an Holzlatten aufgehängt, die sie über ihren Köpfen hochhalten und sie damit an den Bühnenrand tragen.
Doch die Frauen haben ihre eigenen Mittel, um sich zu behaupten. Sie benutzen ihre Reize gerne, um die Männer den Kopf zu verdrehen. Eine Frau wirft ihr Kleid immer wieder kurz über den Kopf eines sitzenden Mannes, um ihn zu verwirren. In einem Restaurant sitzen drei Kellnerinnen rauchend und quatschend zusammen. Vom wartenden Gast lassen sie sich dabei nicht stören. Nur unwillig schlurfen sie in seine Richtung, um ihn mit dem minimalen Aufwand abzufertigen.
Das Rauchen ist ein fester Bestandteil der Choreographie. Selbst als sich ein Paar höchst verliebt miteinander beschäftigt, ist Rauchen und Küssen fast ein und dasselbe.
Doch es gibt auch Irritationen in den fest gefügten Rollenbildern. Eine Frau spricht in einer Männerstimme von "Viktor", der ein Titel gebender Geist in dieser Inszenierung bleibt. Ein Mann führt oberkörperfrei einen Bauchtanz vor. Ein Mann schlurft immer wieder in großem Hut und langem Kleid über die Bühne.
Pina Bausch erzählt viele kleine Episoden von den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die sich zu einem unterhaltsamen und träumerischen Kaleidoskop fügen. Es wird in Hamburg viel gelacht über diese Ideenflut der Absonderlichkeiten. Doch es gibt auch Bilder, die weniger von Zerstreuung als vielmehr von Zerstörung sprechen. In einer Szene greift sich jeder Bretter, Stricke oder Tücher, um sich an oder auf ihnen zu anderer Seite zu retten. Doch so schnell die Ausnahmezustand gekommen ist, so schnell ist er wieder vorbei und die Männer hängen die Frauen in langen Flatterkleidern an die Ringe, die von der Decke schwebten, und lassen sie über die Bühne fliegen.
Pina Bausch Tanztheater-Compagnie erzählt viele Geschichten, dazu nutzt sie den Tanz nur als eines unter vielen anderen Mitteln. Die Tänzer sind Allroundtalente, die ebenso gut auch schauspielern, singen und improvisieren können. Das Hamburger Publikum war zur ausverkauften Vorstellung in die K 6 gepilgert, um eine der Kultinszenierungen von Pina Bausch in voller Länge und Kreativität zu genießen. Sie bekamen, was sie erwartet hatten: einen weiteren Beweis dafür, welch herausragendes, kreatives Genie die Bühnenwelt mit dem Tode von Pina Bausch 2009 verloren hat. Mit stehenden Ovationen endete der Abend.
Birgit Schmalmack vom 29.1.17