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Nicht schlafen, Alain Platel, Kampnagel

Nicht schlafen, Alain Platel © Chris Van der Burght


Wegbrechen der Zivilisation

Drei tote Pferdekadaver (Bühne: Berlinde de Bruyckeres) liegen als Sinnbild des Todes unschuldiger Kreaturen aufgebahrt auf einem Podest mitten auf der Bühne. Neun Menschen sind im Gegenlicht auszumachen, die umherschlendern. Plötzlich stürzen sie sich aufeinander und reißen sich Stück für Stück die Kleider vom Leibe, bis sie in Fetzen herunterhängen. Die einzige Frau unter den Kämpfern versucht sich so gut es geht zur Wehr zu setzen, doch bald ist auch sie bis auf die Unterwäsche entkleidet.
Im dem Moment jedoch, als das Adagietto von Gustavs Mahlers 5. Symphonie einsetzt, schwingen sie sich plötzlich zu einzelnen Ballettbewegungen und gemeinsamen Tanzversatzstücke auf. Als wenn sie sich auf einmal an ihre einstige Zivilisation und ihre vorhandene kulturelle Bildung erinnern würden, kramen sie diese Einzelteile, die aber mittlerweile ihre Grundlage verloren haben, hervor. Doch schnell verharren sie nach ein paar Schritten wieder in einer abwartenden Bewegungslosigkeit, belauern die anderen aufmerksam, ob der Gefahren, die von ihnen im nächsten Augenblick drohen könnten. Keiner ist vor dem anderen sicher. Keiner kann sich mehr auf eventuelle frühere Verabredungen verlassen. Alles ist in Frage gestellt, jede Regel ist aufgebrochen.
Gustav Mahler hat in seiner Musik die Unsicherheit seiner Zeit kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs vertont. Wegbrechende Gewissheiten übersetzt er in dramatische Symphonien und überführt sie in musikalische Emotionalität. Alain Platel hat für seinen Weckruf-Abend "Nicht schlafen" zusammen mit dem Musiker Steven Prengels Elemente aus Mahlers neun Symphonien (mit Ausnahme der Achten) benutzt oder Teile in Soundscapes zitiert und mit afrikanischer Musik gemixt. Dazu erfindet Platel mit seinem grandiosen Ensemble Szenenfolgen, die von der Zerrissenheit, der Bedrohung und Unsicherheit jedes Einzelnen, der die Geborgenheit der Gemeinschaft verloren hat, erzählen.
Den dramatischen Höhepunkt bildet eine Sequenz, in der einer der Tänzer zu Tode gehetzt wird und danach von allen anderen wie ein erlegtes Tieres ausgeweidet und auf den Pferdekadaverhaufen geworfen wird. Sein Todeskampf wird ganz ohne die Zuhilfenahme der Hände ausgeführt. Der Mensch ist auf die Stufe des Tieres zurückgefallen. Die Degeneration des Menschen durch die Auswirkungen des Krieges versinnbildlicht Platel auf schmerzhafte Weise. Diese Arbeit fordert nicht nur die Tänzer zu ganzem Einsatz von Körper, Stimme und Gefühl heraus sondern packt auch die Zuschauer dort, wo es an die Nieren geht. Eine herausragende Arbeit, die keinen ungerührt lassen kann!
Birgit Schmalmack vom 27.11.16