Morgen spricht von mir die ganze Welt

Morgen spricht von mir die ganze Welt by Gonschior



Der Wahn als Teil der deutschen Seele

Stimmen (Agnes Decker, Robert Arnold, Endre Holeczy, Johannes Karl) flüstern, reden und rufen im Dunkeln von dem Unerhörten, das ein einzelner Mensch 1913 in einem kleinen badenwürttembergischen Dorf angerichtet hat: von einem Amokläufer, der zuerst seine Familie umgebracht hat und dann brandschatzend und mordend durch das Dorf rast. Keiner will etwas bemerkt haben. Ein braver Lehrer, der vier Kinder mit seiner Ehefrau hatte, unbescholten, anerkannt und beliebt. Was treibt so jemanden zu dieser Tat? Für den Pfarrer ist es klar: W. personifiziert das Böse im Menschen, vor dem sich die Gläubigen nur mit einer größeren Hinwendung zu Gott schützen können. Das Gericht gibt sich damit nicht zufrieden. Die blinde Justitia verlässt sich blind taumelnd auf den tiefenpsychologisch versierten Gutachter, der von Schuldkomplexen wegen sexueller Verfehlungen und Verfolgungswahn spricht, und schickt W. lebenslänglich in die Irrenanstalt.
Doch W. ist mehr als ein kleiner Irrer. Er lässt zwischen den drei schrägen Löcherwänden, die nur wenig Durchblick erlauben, tief in die deutsche Seele blicken. Er trifft in seinem Dorf auf eine Atmosphäre, die gerne das Deckmäntelchen der Verschwiegenheit über alles nicht Passende legen möchte. Das führt bei W. dazu, dass er mit seinen Forderungen der Aussortierung viel weiter geht als die Gemeinschaft im Moment noch hören will: Ein Drittel der Menschheit gehört ausgerottet. Lauter überflüssiges Leben. So wird W. zu einem Vorboten der Nazi-Ideologen, die in ihrem Euthanasie-Programmen die Gedanken W.’s konsequent zu Ende brachten. In der fehlenden Auseinandersetzung und Kaschierung dieses Gedankenguts liegt schon eine Vorbereitung seines Nährbodens. Diese spannende Analyse nahm sich das kleine Zimmertheater aus Tübingen mit „Morgen spricht von mir die ganze Welt“ von Axel Krauße und Peter Sindlinger in Zusammenarbeit mit der Tübinger Universität an. Eine anspruchsvolle, fordernde Aufführung, die vor brisanten und aufwühlenden Thesen nicht zurückschreckt.
Birgit Schmalmack vom 30.6.14