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Schwarze Augen, Maria

Schwarze Augen, Maria © Erich Goldmann

Schwarze Augen, Maria

Abtauchen in ein Paralleluniversum
Es riecht nach süßlichem Reinigungsmittel, abgestandenem Rauch und köchelndem Eintopf. Wer der Einladung ins Haus Lebensbaum an der Wartenau zum Tag der offenen Tür folgt, durchlebt eine alle Sinne einnehmende Erfahrung. Wer sich dieser Herausforderung, von der er noch nichts ahnt, stellt, wird hinterher die Welt draußen nicht mehr so sehen können wie zuvor. Denn er betritt ein Paralleluniversum, in dem sechs „besondere“ Familien wohnen, die von dem Psychiater Dr. Mittag (Sebastian Sommerfeld) betreut werden. „Betreutes Wohnen“ nenne man diese Wohnform, erklärt er den geladenen Gästen. Nun nach 20 Jahren öffne die Einrichtung der Stadt Hamburg zum ersten Mal ihre Türen der Öffentlichkeit. Die „lieben“ Familien hätten sich bereit erklärt, die Gäste an ihrem Alltag in ihren Wohnungen teilnehmen zu lassen. Eine eigens einstudierte Theateraufführung der 20-jährigen „Kinder“ bilde später den Höhepunkt und die Überleitung zur anschließenden Party bei Cocktails und Tanz zur Hammondorgel. Doch bis dahin dürfen sich die Gäste frei im Haus Lebensbaum bewegen, auf den Sofas und an den Esszimmertischen der Familien Platz nehmen und sich deren Geschichten erzählen lassen. Sie dürfen an der „Mariannenrunde“, am Antiaggressionstraining, am „Mittag“-Essen und an Kummerteerunde teilnehmen. Die gastfreundlichen Familienmitglieder heißen jeden herzlich willkommen und bieten Bier, Wodka, Kekse und Geschichten an. Alle kreisen immer wieder um einen mysteriösen Unfall vor 20 Jahren an der Autobahnraststätte Altenwerder. Hier lief eine Frau (Signa Köster) auf die Straße, ließ einen LKW eine Massenkarambolage verursachen, in dem alle sechs Familien des Hauses Lebensbaum verletzt wurden. Alle kamen ins UKE. Noch im Krankenhaus wurden Kinder gezeugt, die 9 Monate später zur Welt kommen, alle mit schwarze Augen und merkwürdigen Verhaltensweisen. Viele der Mütter suchten bei Dr. Mittag, der am UKE tätig war, Beratung. Dieser fand Interesse an den Fällen, stellte Parallelen her und diagnostizierte bei den Kindern und ihren Mütter das „Theiresias-Sydrom“. Denn alle Kinder entwickelten im Laufe ihres Lebens nicht nur Verhaltensungewöhnlichkeiten sondern auch hellseherische Fähigkeiten, die das nahe Ende der Welt vorhersagten. Er gründete schließlich das Haus Lebensbaum, um den Familien einen geschützten Lebensraum zu bieten. Denn Dr. Mittag ist im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen der Meinung, dass sich psychiatrische Auffälligkeiten nie heilen sondern nur begleiten lassen. Ihre Hauptschwierigkeiten lägen nicht in ihnen selbst sondern in der Kollision mit der vermeintlich normalen Umgebung begründet, die es abzufedern gelte.
Klopfte man die erste Wohnungstür noch gehemmt, verliert man bald die Scheu einzutreten, sich dazu zu setzen und mitzureden. Alle Fragen dürfen auf den Sofas gestellt werden. Schnell werden die Gespräche persönlich, denn auch die Familienmitglieder stellen ganz ungeniert Fragen an ihre Gäste. „Was verletzt dich?“, „Warum hast du keine Kinder?“, „Wovor hast du Angst?“, „Wie fühlst du dich?“
Die Wohnungen sind sehr persönlich gestaltet, doch alle in schmutzigen Pastelltönen gehalten. Hellblau und hellrosa bestimmt neben geflecktem Beige die Räume. Viele Teddys und Puppen bevölkern die Vitrinen, Regale und Sitzgruppen. Überall liegen Dinge des täglichen Lebens verstreut. Oft ist in eine Ecke ein Nest gebaut. Das sind die aus Stöcken, Stoffen und Netzen gebauten Rückzugsorte der „Schwarzäugigen“. Auch in diese darf der Gast hineinkriechen und sich von den Kindern in seine Denkwelt entführen lassen. Selten blicken sie die Gäste geraden Auges an, oft geht der Blick nach oben oder auf den Boden, manchmal begleiten nervöse Zuckungen ihre Erläuterungen. Doch selbstbewusst erläutern sie bereitwillig ihr Wissen um den drohenden Weltuntergang und die Möglichkeit der Rettung. Die Gefühle der Irritation und der Faszination wachsen mit jeder Stunde, die der Gast zubringt in diesem fest abgeschlossenen Gedankenuniversum. Dazu passt, dass zwei Schwestern über den Ein- und Ausgang wachen. Keiner darf das Haus während seines Aufenthaltes verlassen.
Wo ist der Gast hier gelandet? In einem Irrenhaus, in einer liebevollen WG oder in einer Theaterinstallation? Letzteres mag man bis zum Schluss nicht glauben; zu perfekt stimmt jedes noch kleine Detail in der Dekoration und Darstellung, zu herzlich ist die Aufnahme in jede Sofarunde, zu echt wirken die Ticks der „Kinder“. Und doch: Die Erschaffung dieses perfekten Illusion ist das Werk der österreichisch-dänischen Theatergruppe Signa. Ihr ist es zu verdanken, dass die Gäste eintauchen dürfen in Erfahrungen, auf die sich die meisten von ihnen wohl freiwillig nie eingelassen hätten. Sie lassen nicht kalt, denn sie stellen wohl gelittene Weltbilder in Frage. Was ist normal, was nicht? Wer darf hier wen hinterfragen? Wer darf Wahrheiten definieren?
Dabei geht es nicht um die Frage nach den „richtigen“ Betreuungskonzepten für vermeintlich Behinderte. Hier wird niemand ausgestellt. Ganz im Gegenteil: Der „Normalo“ wird hineingeworfen in eine Welt, in der er einmal nicht die Regeln bestimmen darf. Hier ist er angewiesen auf die Führung durch die angeblich Bedürftigen. Die Machtverhältnisse werden umgekehrt. Die gewünschte Wirkung stellt sich ein: Der konsumierende Zuschauer wird zum lernenden Gast.
Birgit Schmalmack vom 21.1.14