4.48 Psychose, Schauspielhaus
Der Weg in den Tod
Ein leuchtender Bilderrahmen um völlige Schwärze. Schritte sind zu hören. Türenschlagen. Dann eine Frau im dunklen Mantel, die durch die Nacht läuft. Immer wieder erleuchten sie Scheinwerferkegel, manchmal quietschen Bremsen. Partygeräusche sind zu hören. Musik aus vorbeifahrenden Autos. Gesprächsfetzen von vorbeigehenden Menschen. Die Frau geht durch die Nacht einer Großstadt. Sie ist nicht Teil des dort abspielenden Lebens. Sie ist ausgeschlossen von seinem Treiben, von seiner Gemeinschaft. Sie ist unfähig zu essen, zu schlafen oder geliebt zu werden. Sie läuft auf den Tod zu. Der Rhythmus des Wahnsinns ist der Rhythmus ihrer Schritte. Sie läuft vor Autos. Ihre Mundwinkel zucken vor Anspannung.
Sarah Kane diagnostiziert in ihrem letzten Stück "4.48-Psychose", das sie kurz vor ihrem Selbstmord geschrieben hat, bei sich eine pathologische Trauer. Nachdem sie alle Sorten von Therapien und Medikamenten an sich hat ausprobieren lassen, benutzt sie das einzig wirklich wirksame Mittel: Sie begeht Selbstmord. Um 4.48 Uhr beschließt sie ihrer Qual, in einem Körper zu sein, der nicht zu ihrer Seele passt, ein Ende zu setzen. Sie leidet an einer Welt, die sie nicht sieht, die sie nicht erblickt und die sie nicht liebt. Das macht sie an einzelnen Personen fest: an ihrer sie verlassenden Mutter, an ihrem sie nicht liebenden Vater, an einem ihrer vielen Ärzte.
Dieser Assistenzarzt enttäuscht sie in ihrer abhängigen Patientenrolle auf besonders dramatische Weise. Er hat sie tatsächlich angesehen und ihr Zuneigung gezeigt. Das hat ihrem ausgehungerten Selbst genügt, um sich mit all ihrer nutzlosen Liebe auf ihn zu werfen und sich tief verletzt zu fühlen, als er dann von einer "professionellen Beziehung" zwischen Arzt und Patientin sprach.
Doch er ist nur eines ihre Liebesobjekte, die sich immer wieder in Schweigen und Nichtbeachtung zurückziehen. Auch Gott ist ein der Angerufenen, der nicht antwortet. Und die Frau, die noch nicht geboren ist oder schon tot ist, die aber von ihr innig geküsst werden soll.
Diese grenzenlose Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit einer Frau wird von Julia Wieninger überragend eindrücklich und berührend dargestellt. Sie zeigt eine Frau, die sich mühsam dagegen wehrt, sich von einem Doktor Dies oder einem Doktor Das mit immer neuen Medikamenten ihren Verstand ausknipsen zu lassen, auch wenn dieser sie letztendlich in einem Meer von Logik und Wahnsinn ertrinken lässt. Sie kennt all die klugen Ratschläge der Herren Psychiater auswendig ("Stärke dein Selbstwertgefühl. Mach dich frei. Suche dir Ziele. Habe Erfolge. Gestalte Beziehungen.") und weiß doch, dass sie ihr nicht helfen werden.
Der Soundtrack führt sie zum Schluss mit einem Fahrstuhl in die Höhe, bevor es endgültig in die Tiefe geht. Sie hat ihren Ausweg beschritten. Katie Mitchell hat für den Monolog mit einer ausgefeilten Ton- und Lichtregie eine Umgebung geschaffen, die die ganze Geschichte einer tragischen Nacht erzählt. Wieninger ist dafür eine grandiose Darstellerin, der ihre Schmerzen in jedem Moment in ihrem Gesicht anzusehen sind.
Birgit Schmalmack vom 6.1.18