1984, Ernst Deutsch Theater

1984 im EDT Foto: Oliver Fantitsch


Der Verlust der Vergangenheit

Dass der Verlust der Vergangenheit auch der der Zukunft bedeutet, wird klar, wenn man Winston Smith zusieht, wie er versucht im Reich vom Big Brother seine Individualität zu behalten. Er geht für ihn nicht nur um die ständige Überwachung, nicht nur um das Gedankenverbot oder die Neuregelung der erlaubten Sprache sondern auch um die Wichtigkeit der Erinnerung, um eine Zukunft zu imaginieren. Nur so kann die Unterscheidung von Fake News und Wahrheit, Lüge und Manipulation funktionieren. Erst die Erfahrung und die Erinnerung daran liefert die Ordnungssysteme, die richtig und falsch unterscheiden lassen.
Diese Erkenntnis vermittelt die Inszenierung des Orwell Klassikers im Ernst Deutsch Theater von Elias Perrig auf eindrückliche Art und Weise.
Regisseur Perrig versucht die Aktualisierung, indem er die Darsteller zwischendurch an die Rampe treten lässt und aus der Sicht von 2017 auf das Stück blicken lässt. Das führte zu Beginn bei einigen Zuschauern für Verwirrung der Zeit- und Erzählebenen, schafft aber einen deutlichen Bezug zu heutigen Verhältnissen. "1984" ist 2017 denkbarer geworden, nicht nur aufgrund der technischen Möglichkeiten sondern auch aufgrund von Demokratieeinbrüchen in einigen westlichen Ländern.
Perrig hat ein stimmiges Ensemble zur Verfügung. Besonders der Hauptdarsteller Alexander Finkenwirth ist grandios. Er spielt den verunsicherten, den nachdenklichen, den gradlinigen Aufbegehrenden, der sich seinen Verstand nicht abtrainieren lassen will, mit unglaublichem Tiefgang. Er verschmilzt in jeder Sekunde mit seiner Rolle.
Die Bühne ist ein graues Drehkarussell für die verschiednen Räume, alle mit Überwachungskameras ausgestattet.
Doch der Stoff ist in dieser Umsetzung, die eine auf einer Romanbearbeitung für das Westend beruht, harter Tobak. Die Folterszenen sparen nicht an Blut spritzender Deutlichkeit. Ob dieses Schockerambiente nötig gewesen ist, ist fraglich. Die Botschaft des Stückes wäre auch ohne klar geworden. So wird für manche vielleicht eher zeitweise der Rückzug in die distanzierte Grusel-Beobachterposition erlaubt.
Doch am Ende steht wieder das Ensemble an der Rampe und macht klar, worum es geht: Wachsam die Anzeichen zu beobachten und an das zu denken, was Winstons Freundin (Luisa Taraz) sagte: "Wir hätten ihnen nicht vertrauen sollen!"

Birgit Schmalmack vom 3.9.17