Bist du Opfer oder Schöpfer?

Schuld und Sühne, Globe Thorsten Wulf


Das ist hier die Frage der selbstbewussten Frau auf der Bühne an ihr Publikum. Sie hat sich das Ziel gesetzt, den zurzeit erfolgreichsten Erfolgscoach Jürgen Höller abzulösen. Sie stellt dafür ihre eigene Lebensgeschichte als vorbildgebendes Beispiel zur Verfügung. Doch ob ihre Geschichte wirklich die richtige ist, um für eine positive Botschaft zu sorgen, müssen die Zuschauer:innen am Ende selbst entscheiden.
So startet die selbsternannte Erfolgscoachin frei stehend mit ihrem Vortrag im Format eines Ted-Talks. Wenn sie mit großen Gesten von ihrer Tat berichtet, die sie aus der Opferrolle herauskatapultieren sollte, fallen ihr immer wieder einzelne Strähnen ihrer roten Lockenmähne ins Gesicht. Der Armut wollte sie entkommen und beging dazu einen scheinbar sinnlosen Mord an einer alten Pfandleiherin, der sie schon öfter einen Wertgegenstand als Pfand anbieten musste. Als deren unschuldige Schwester unglücklicherweise Zeugin wird, kommt ungeplant ein zweiter hinzu. Schon bald sind neue Schritte vor der Wohnungstür zu hören. Doch wider Erwarten gelingt der Täterin unerkannt die Flucht. Unwillkürlich folgt man gespannt den Schilderungen dieser Frau, die jedes Klischeebild einer Mörderin sprengt. Wie aus dem Bildungsbürgertum entsprungen steht sie vor einem. Man sieht keinen Outcast sondern ein scheinbar ehrbares Mitglied dieser Gesellschaft. Auch wenn das Entsetzen über ihre Taten und die scheinbare Beiläufigkeit ihres Berichtes schockieren, fängt man unwillkürlich mit ihr mitzufiebern, ob sie wohl entkommt.
Darf ein Mensch ein Verbrechen verüben, wenn er dadurch ein empfundenes Unrecht ausgleichen kann? Darf er das auch, wenn es keineswegs um bahnbrechende Neuerfindungen oder Revolutionen geht, sondern einfach nur um Geld und Gold? Das ist die Frage, die Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne" zugrunde liegt, die hier dem KantTheaterBerlin als Vorlage für ihre Bühnenbearbeitung im Globe Theater diente.
Im ersten Teil vor der Pause sind die Zuschauer:innen einzig mit der Sicht der Frau konfrontiert. Nach der Pause jedoch bekommt sie ein Gegenüber, nämlich in der Gestalt des Untersuchungsrichters Porfirij, der mit der Aufklärung der Tat betraut ist. Die Täterin hat ihn aufgesucht, um ihre Pfandgegenstände wieder zu bekommen und sich damit nichtsahnend in eine Falle begeben. Denn der Richter weiß mittlerweile genau, wer die Täterin ist. Mit pfeilspitzen Dialogen umreisen sich die beiden wortgewandten Intellektuellen in ihren Argumentationen. Geschickt lockt der Richter sie aus ihrer Deckung, indem er sie nach einem ihrer Artikel befragt, in dem sie das Verbrechen an sich rechtfertigt, wenn es nur von einem besonderen Menschen begangen wird. Es gäbe laut ihrer Meinung die gewöhnlichen und die außergewöhnlichen Menschen, die zu Höherem berufen seien. Letztere dürften ruhig Verbrechen begehen, wenn sie damit höhere Ziele verwirklichen könnten. Der Richter verfolgt seine Taktik konsequent, indem er ihr schmeichelt, sie provoziert, ihr droht. und ihr schließlich ein Angebot macht. Sie solle sich stellen.
Nur auf den Tathergang und den Disput, um nicht zu sagen das Verhör, zwischen dem Untersuchungsrichter und der Frau beschränkt, wird der umfangreiche Roman auf weniger als neunzig Minuten verkürzt. In dieser Interpretation von Anette Daugardt und Uwe Neumann unter dem Label Wortkunst ist Raskolnikow eine Frau. Das verleiht dem Täter eventuell ein paar Sympathiepunkte mehr. Eine Frau, die zur Tat schreitet, um sich zu befreien, ist zunächst eher positiv besetzt. Ihre elegante Erscheinung tut ihr Übriges. Raskolnikows anschließende Gewissensbisse und einsetzende Seelenpein werden auf der Bühne weniger als im Roman ausgeschmückt. Diese Frau behauptet zwar, sie habe sich selbst getötet, als sie den Mord beging. Doch wir sehen eine selbstbewusste Frau, die sich selbst zur Macherin stilisiert. Sie versucht vielmehr, die Fassade einer Powerfrau aufrechterhalten. Sie will bis zum Schluss die Oberhand behalten und sei es wieder einmal durch das Zücken einer Waffe. Ihre vollmundige Ankündigung vom Beginn, ein Vorbild sein zu können, erweist sich so als reiner Marketinggag. Diese Frau ist eine Getriebene, auch wenn sie sich als Erschafferin ihres Schicksals gerieren mag.
So haben Daugardt und Neumann einen eigenwilligen Zugang zu der Romanvorlage gefunden, der ihn in unsere Zeit transferiert und dennoch die moralische Beurteilung fast noch schwerer macht. Die Inszenierung konzentriert sich ganz auf das gesprochene Wort. Sie kommt ganz ohne Requisiten auf der Bühne aus, wenn man von zwei Stühlen und einer Flasche Rotwein absieht. Sie bewegt sich geschickt an der Grenze zwischen intellektueller Auseinandersetzung und Spannung, zwischen Monolog und Dialog, dem eigenen konstruktiven Narrativ mit entsprechender Rechtfertigungsstrategien und der Gegenüberstellung zu den vermeintlichen allgemeingültigen Regeln der Justiz.
Im Garten des Globes kann man anschließend direkt mit Anette Daugardt und Uwe Neumann über das Gesehene diskutieren. Das ist nahbares Theater, das die direkte Auseinandersetzung ermöglicht, sowohl mit den Stoffen wie mit den Machern.

Birgit Schmalmack vom 27.7.24