Kaspar Häuser Meer, Kontraste

Kaspar Häuser Meer Foto: Oliver Fantitsch


Unter Akten begraben

Welche Aktenleichen mögen sich in den zahllosen Umzugskartons verbergen, aus denen ihr ganzes Büro besteht? Die drei Frauen ( Katharina Abt, Barbara Krabbe, Verena Mörtel) im Kampf gegen die Zeit sind Mitarbeiterinnen in einem Jugendamt. Alle sind sie einst angetreten um Leben zu retten, Kindern zu helfen und Eltern Hilfestellungen zu geben. Doch sie ertrinken in einem Meer von möglichen Kaspar Hauser Fällen, stehen oft vor verschlossenen Türen in dem Meer von Häusersiedlungen, hinter denen sich mögliches Leid verbergen könnte. Immer in der Angst, das eine wichtige Detail übersehen zu haben, das das alltägliche Erziehungselend von lebensbedrohlicher Misshandlung und Vernachlässigung trennt. Die Drei kommen immer zu spät. Atemlos ist ihre Sprache. Oft fehlt selbst die Zeit für Verben, abgehackt rasen sie im Schnellsprech durch ihre Pflichten, Versäumnisse, Rechtfertigungen und Selbstzweifel. Sie können nur scheitern. Das sehen sie spätestens an ihrem überengagierten Kollegen Björn, der sich in all seinen Aktennotizen so verzettelt hat, das er mit Burnout eingeliefert worden ist. Das kann Babs nicht passieren, so glaubt die betont abgeklärt auftretende 50-Jährige. Sie flüchtet sich am liebsten mit einer Tasse Kaffe in die Reiseprospekte in eine einsame Holzhütte in Kanada und verfrachtet das klingende Telefon kurzerhand in einen der Umzugskartons. Die ständig überforderte Silvia hat hinter ihrer Statistik immer eine Flasche Alkohol griffbereit und träumt als letztem Ausweg von einem Sprung aus dem Fenster. Die junge, übereifrige Anika versenkt sich so sehr in die Rettung anderer Kinder, dass sie ihr eigenes darüber vergisst und selbst von einer Mitarbeiterin des Kindergartens als kritischer Fall betrachtet wird.
Regisseur Harald Weiler macht im Theater Kontraste des Winterhuder Fährhauses die Aussichtlosigkeit unter diesen Bedingungen helfen zu können nachvollziehbar. In kurzen knackigen neunzigen Minuten legt er mit dem Stück von Felicitas Zeller den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die ihre Neurosen auf dem Rücken der Schwächsten austrägt.
Birgit Schmalmack vom 10.11.14