Heimweh
Lektion gelernt?
Sich selbst hat Sebastian mit wenigen Strichen an die Hinterwand gezeichnet. Doch nur seine Umrisse sind zu sehen. So leer fühlt er sich inwendig. Immer wieder hat er zu hören bekommen, was für ein Versager, für eine Doppel-Null er sei, dass er schließlich selbst daran glaubt. Seinen Vater hat Sebastian hoch oben, fast unter die Decke, gemalt. Wie ein allmächtiger Gott thront und wacht er über allem und ganz besonders über seinen Sohn. Hart will er ihn machen. Zu einem richtigen Mann erziehen. Er schlägt ihn, wann immer ihm der Sinn danach steht.
„Warum?“ hat Sebastian über seinen Kopf mit dicken Edding-Buchstaben an die Wand geschrieben. Er versteht den Sinn dieser willkürlich hernieder prasselnden Schläge nicht. Er bereift nur: Er hat immer Schuld und sein Vater immer recht. Und so lernt er eine Menge: Zu Hause die beste Strategie des Überlebens der Gewaltattacken und in der Schule das Unterdrücken der Anderen. Doch bald ist er so leer wie sein gezeichneter Umriss. Alle Gefühle in ihm sind abgestumpft. Er ist zu einem Zombie geworden, der sich nur noch mechanisch durch den Alltag bewegt.
Da beschließt er die Flucht. Fortan versucht er auf der Straße zu leben. Als er sich eines Tages nach Hause schleicht, um zu duschen und neue Kleidung zu holen, trifft er unerwartet auf seinen Vater. Doch dieses Mal begehrt er auf, wehrt sich gegen seinen Unterdrücker und knockt ihn mit einem Schlag zu Boden. Erschrocken über sich selbst läuft er fort. Zum Bahnhof. Dort kommt ihm die rettende Idee: Einfach auf die Bahnschienen vor den nächsten ICE springen!
Autor Thomas B. Hoffmann lässt Sebastian in seinem Monologstück von seinem erschreckenden, aber „ganz normalen Leben“ mit seinen „ganz normalen Eltern“ erzählen. Über eine Stunde berichtet Jan Holtappels im Theater Das Zimmer in der Washiongtonallee über sein Dasein in der Familienhölle. Wie eine Geisel seiner Eltern muss er ihre Gewalt wehrlos ertragen. Die Ausweglosigkeit seiner Situation, die ihn als Kind in Abhängigkeit von seine Eltern gefangen hält, wird im Lauf der 70 Minuten in der Intimität der Zimmerbühne fast unerträglich spürbar. Doch allmählich keimt in den Jungen ein Widerstandsgeist auf, wenn sein Mut dazu auch einer der Verzweiflung ist. Sebastian hat anscheinend endlich die Lektion seines Vaters gelernt. Er setzt zum Gegenschlag an.
Holtappels zeigt unter der Regie von Lars Ceglecki, wie die Spirale der Gewalt sich unheilvoll fortpflanzt. Das Stück regt in seiner dramatischen Zuspitzung zum Nachdenken über Erziehungsstile, Eltern-Kind-Beziehungen und Gewalt an. Da die Theaterpädagogin Sandra Kiefer neben Holtappels und Ceglecki mit zum Leitungsteam des Theaters Das Zimmer gehört, kann dieses Stück auch Klassenzimmerstück plus anschließender Diskussion gebucht werden.
Birgit Schmalmack vom 16.11.1
http://www.theater-das-zimmer.de/