Gebrochene Strukturen
Hofesh Shechter hat klare Rollenbilder. Das wurde besonders deutlich, weil er zur Kampnagel-Spielzeiteröffnung eine reine Frauen- und eine reine Männerchoreographie hintereinander präsentierte. Aus dunklen Nebelschwaden tauchen Männer in Buggyhosen und T-Shirts auf und verbreiten in „Uprising“ klares Testosteron-Ambiente. Ihre Umarmungen schlagen sekundenschnell in Ringkämpfe um. Donnergrollen kündigt mit harten Trommelschlägen den nächsten Umschlag in Gewalt und Aggressivität an. Freundschaft kippt von einem Moment zu anderen in Rivalität. Nie wird der Blick gehoben. Offenheit ist nicht angesagt. Kampfesbereit steht die Aufmerksamkeit auf Alarmbereitschaft. Selbst der Kreis, den die Männer wie für ein Team bilden, wird schnell zu einer Schlägerei. Die Welt erscheint als ein gefährlicher Ort, an dem jeder am besten nur für sich alleine sorgt. Auch in „The art of not looking back“ geht es um gebrochene Lebensstrukturen. Zarte Frauen in kurzen durchsichtigen Kleidern sind eingeschlossen in einen weißen Bühnenkasten. Aus dem Off erzählt eine Männerstimme, dass er mit zwei von seiner Mutter verlassen wurde. Wie ein Gefäß mit einem Loch sei er. Trotz Dauerfüllung durch seine Umgebung gäbe es in ihm nur die große Leere. Frauen versuchten alles zu sein und seien doch nichts. Gefangen in dem engen Korsett der Möglichkeiten sind die Tänzerinnen hin- und hergerissen zwischen Ballett- und Kampfesposen. Ihre Kraft wirkt wie ruhiggestellt, wie unter dem Deckel gehalten. Während die Männer ihre Aggressionen ausleben, verleihen die Frauen ihrer Hilflosigkeit im Straucheln und Staksen Ausdruck. Zwei mitreißende, beeindruckende Arbeiten, die unbändige Energie mit tiefer Traurigkeit, Enttäuschung und Wut unterlegen und unterdrückte Lebenskraft und Leidenschaft zeigen, die zuerst gegen Wände und dann ins Leere laufen. Zum Schluss wird im Schnelldurchlauf alles auf Anfang zurückgespult. Gibt es noch einmal eine zweite Chance? Oder ist es nur ewiger Kreislauf? Das Schlussstatement „Ich verzeihe dir nicht!“ gibt wenig Hoffnung. Auch wenn die Männer zum Ende eine winzig kleine Revolutionsfahne auf einer wackeligen gemeinsamen Pyramide hissen. Birgit Schmalmack vom 1.10.12
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