Die Norm hinterfragend
Was wenn hören können nicht der Normalfall ist? Wenn man dazu die Verschriftlichung bzw. die Übertragung in Gebärden braucht? Wenn man keine Stimmen hören und deswegen auch seine Stimme nicht gebrauchen kann bzw. dies mühsam mit Hilfe von jahrelangen Logopädiesitzungen trainieren muss? Das ist der Hintergrund der sehr persönlichen Arbeit „The Voice“ der Choreograph:in Rita Mazza, deren Erstsprache die italienische Gebärdensprache ist. Mit einem riesigen Team, das beim Schlussapplaus kaum auf die Bühne im Sophiensaal passte, bezog sie Fragen der Barrierefreiheit von Anfang an mit ein. So waren Audiodiskriptionen in verschiedenen Sprachen und eine Gebärdendolmetscherin Teil der Aufführung. Über diese Tools wurden aber auch zur besseren Orientierung für alle Zuschauer:innen kleine biographische Erklärungen gegeben, die den Hintergrund der Arbeit verdeutlichen.
Um sich Gehör zu verschaffen, benutzt Mazza hauptsächlich zwei Geräusche: Sie erzeugt mit einem Strohhalm in einem Wasserglas so viele unterschiedliche Blubbergeräusche, dass sie damit sogar unterschiedliche Stimmungen ausdrücken kann. Danach macht sie ihren Atem hörbar. Das könnte dann durchaus auch sexuell verstanden werden, erklärt die Gebärdendolmetscherin vorsichtshalber gleich dazu. Denn um Kontrolle geht es Mazza. Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig es für sie ist, die Wirkung ihrer Stimme selbst kontrollieren zu können, ohne sie zu hören, ist ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit. Das Einfühlen in die Scham über die wohlmöglich erzeugten Geräusche ohne die Fähigkeit zur Rückkopplung übers eigene Gehör, wird deutlich gemacht. Mazza hat nur einen ganz begrenzten Raum dafür zur Verfügung, sie zeigt Bewegungen der Eingrenzung und der Abzirkelung auf einem kleinen schwarzen Bühnenpodest innerhalb des großen Saals. Freiheit im Ausdruck sieht anders aus. Harte Arbeit spricht aus ihrer Eroberung des kleinen Bühnenvierecks. Und dennoch auch ein Selbstbewusstsein, diese Herausforderungen gemeistert zu haben. Irgendwann entschieden zu haben: Die Stunden bei der Logopädin bringen keinen weiteren Input mehr.
Eine kleine Arbeit, die in dieser Umsetzung die Mehrheitsgesellschaft herausforderte, ihr aber auch notwendige Einblicke verschaffte. Allerdings weniger auf der gefühlsmäßigen Ebene, die sich über den Tanz und die Performance transportierte, als vielmehr durch das Setting mit den zahlreichen Zusatzinformationen rund um das Bühnengeviert von Mazza.
Birgit Schmalmack vom 29.8.24