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Rust

Rust - ein deutscher Messias


Du denkst, der ist so



Glatte Pisspottfrisur, große Kassengestell-Brille, schlaksige Figur. Der Junge sieht nach nichts aus. Doch vielleicht genau deswegen will er hoch hinaus. Niemand in seiner Umgebung traut ihm etwas zu, aber er hat große Träume. Er will Frieden und Liebe bringen. Dafür nimmt er Flugstunden. Mit seiner Cessna wird er 1987 auf dem Roten Platz in Moskau landen. Er wird in die Tagesschau kommen. Er wird diplomatische Verwicklungen hervorrufen. Er wird dafür zwei Jahre in russischen Gefängnissen zubringen.
Dem Phänomen "Mathias Rust" widmen sich die drei Mitglieder von Studio Braun in ihrer neuen Produktion am Schauspielhaus. Sie selber tauchen dabei nur am Rande auf. Zunächst als absurdes "Penis-Orakel", das für ein paar schnelle Lacher nötig, aber dramaturgisch völlig überflüssig ist. Später stehen sie als Fliegerpatengestirn aus Hindenburg, Roter Baron und Hartmann für den fliegenden Rust parat. Selbst für die Mutter-Rolle haben sie dieses Mal einen würdigen Ersatz gefunden: statt wie bisher Heinz Strunk nun Juliane Koren.
Sie zeichnen Rusts Lebensweg akkurat nach. Sie zeigen Rust in seinem biederen braun-gelben Elternhaus. Sie begleiten ihn bei Flugstunden über einem virtuellen Second-Life-Hamburg. Sie lassen ihn in einem echten kleinen Flugzeug vor Moskauer Kulisse schweben. Sie führen die Foltermethoden russischer Polizistinnen vor: eine Matrjoschka mit stählernen Fakirnägeln. Sie dokumentieren seine Wiedereingliederungsschwierigkeiten in Deutschland anhand seiner kriminellen Biographie.
Das machen sie recherchegenau und bildgewaltig. Solange Rust reale Aktionen durchführt nur mit Versatzstücken vor Projektionskulisse. Erst als Rust seine Utopie der friedlichen Welt "Lagonia" auf einer deutschen Insel verwirklichen will, entsteht auf der bisher leeren Bühne ein Zauberwald aus Mauerresten, Pflanzen, Lianen und einer Rakete. Mit der heben Rust und die weißen Anhänger seiner Sekte in den Himmel einer besseren Welt ab.
Dieser Abend lebt von seinem Hauptdarsteller: Fabian Hinrichs ist ein wunderbar spinnerter Milchbubi. Er imitiert so perfekt einen schüchternen Laiendarsteller, dass man diesem zu kurz gekommenen, altklugen Außenseiter sofort seine halbgaren Utopien zutraut.
Studio Braun zeigt sich einmal hier von seiner romantischen Seite. Denn trotz der nicht zu überhörenden Ironie scheinen sie diesen Utopisten tatsächlich ernst zu nehmen. Für die Studio-Braun-Fans ist der Schamoni-Palminger-Strunk-Spaß-Faktor in "Rust - ein deutscher Messias" wahrscheinlich zu gering ausgefallen, für die übrigen ist es beruhigend zu sehen, dass die Drei mehr können als in ewiger Blödelei um sich selbst zu kreisen.
Birgit Schmalmack vom 26.10.10

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