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Rückblick
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Freunde sollt ihr sein
Lessingtage im Thalia Theater 2011
Von Birgit Schmalmack

Um alles in der Welt – so lautete das diesjährige Motto der Lessingtage. Gastspiele aus Rio de Janeiro, Peking, St. Petersburg, Bogota, Talinn rundeten den Blickwinkel aus Deutschland und Österreich auf die aufklärerischen Fragestellungen Lessings ab. Aktueller könnten sie kaum sein: In den Themenkomplex der aufgeregten Sarrazin-Debatten des letzten Jahres, der Kampf-der-Kulturen-Diskussionen seit 9/11 und der Multilkulti-Tod-These der Kanzlerin bettete sich das Festival im Thalia Theater ein.
Die Berliner Gastspiele aus Neukölln und Kreuzberg lebten von der gewollten Zuspitzung der Problemfelder, um die Diskussion voranzutreiben. Die Story einer Zwangsverheiratung in „Arabqueen“ lässt eine Klischeegeschichte, die bestens in die derzeitige, aufgeregte Integrationsdebatte passt, vermuten. Doch Regisseurin Nicole Oder vom Heimathafen Neukölln schafft es mit ihren wandlungsfähigen drei Schauspielerinnen (Sascha Ö.Soydan, Inka Löwendorf, Tanya Eratsin) einen Ton zu treffen, der so perfekt zwischen Lässigkeit, Betroffenheit und Selbstironie ausbalanciert ist, dass jede Effektheischerei im Keime erstickt wird. Stets der benutzten Klischeebilder bewusst, spielt sie locker mit ihnen, überpointiert sie sogar, um dann eine Vielschichtigkeit aufzudecken, die überrascht. Gerade in der Herausforderung eines Lebens an der Nahtstelle zwischen den Kulturen zeigt die Protagonistin, die arabisch-stämmige Mariam, ihre große Stärke.
Das Pekinger Gastspiel „Der Unterhändler“ dagegen deutete mit weit zurückliegenden Konflikten mögliche heutige nur wage an. Das kleine Land Lu ist bedroht. Der Meister schickt einen Unterhändler zur Rettung los. Er wählt mit Zi-Gong einen gewitzten Strategen aus. Zi-Gong zettelt zwischen einen weiteren Krieg an, um Lu aus der Schusslinie zu bringen. Zum Schluss versinkt die ganze Welt in Gewalt, doch Lu ist gerettet. Regisseur Lin Zhaohua zeigte mit seinem Theatre Studio aus Peking ästhetisch anspruchvolles Theater, das Parallelen zu heutigen politischen Intrigen nur für die andeutete, die sie sehen wollen. Ebenso verfuhren die St.Petersburger in „Leben und Schicksal“ und leider auch Kimmig mit der wenig überraschenden und anregenden „Die Jüdin von Toledo“.
Wesentlich spannungsreicher und offensiver begegneten die Berliner Choreographin Constanza Macras und das Colektivo aus Rio de Janeiro dem Zusammenleben der Kulturen in heutigen Großstädten. Hier wurden Probleme und Lösungsansätze nebeneinander auf die Bühne gestellt und der Zuschauer war gefordert selbst weiter zu denken.
Das internationale Team der Berliner Choreographin Canstanza Macras wird zum Spiegelbild der zahlreichen Einwanderungsgeschichten einer Metropole. Hier wird englisch, japanisch, chinesisch, portugiesisch und deutsch gesprochen. Wenn die Verständigung über die Sprache schwierig wird, gelingt sie über den Tanz und die Musik. Die unterschiedlichen Hintergründe der Compagniemitglieder werden zur Fundgrube für die Choreographien. Temporeiche Pas de deux wechseln mit gekonnten schwerelosen Abwicklungen in der Luft und auf dem Boden, selbstironischen Muskelshows, stuntgleichen Sprüngen und Breakdanceeinlagen. Knieschützer gehören zur Standardausstattung dieser Gruppe. Was wie ein Chaos wirkt, ist wohl komponiert. Das sprudelnde, zufällig aufeinander treffende Leben in einer Großstadt fängt Macras in schnellen, energiegeladenen Szenen ein.
Die Bühne für "ORTO (or) weknowitsallornothing" des "Coletivo Improviso" aus Rio de Janeiro könnte ein Loftbüro von Künstlern sein, die sich, das Theater, die Anderen und das Leben in diesen Raum fantasieren. Sie erzählen uns mit ihrem ganzen Körper Geschichten. Doch es sind stets nur mögliche Geschichten. Sie könnten auch anders anfangen, anders weiter gehen, anders enden. Denn so ist das Leben: Ein Netz aus wahrscheinlichen oder unwahrscheinlichen Ereignissen, die sich zufällig ineinander fügen und deren Kette durch die Entscheidung jedes Einzelnen verändert werden kann. Die acht Künstler des Kollektivs um die beiden Performer Enrique Diaz und Cristina Moura zeigen hochkomplexes Theater, das einen Spannungs-Sog entwickelt, obwohl es sich scheinbar jeder Stringenz entzieht. Es wird zu einem großen wunderschönen, energiegeladenen Bilderzyklus über das Leben.
Die beiden eigenen Premieren des Thalia Theaters fielen unterschiedlich aus: Restlos begeisterte Jette Steckels Umsetzung des Don Carlos. Die Forderung „Gebt Gedankenfreiheit!“ in geschlossenen Machtsystemen wurde vielschichtig auf ihre Umsetzbarkeit hin analysiert. „Falling Man“ blieb dagegen in seinen Denkansätzen zu bruchstückhaft, um ähnlich zu faszinieren.
Das schönste Denk-Mal wurde dem Namensgeber des Festivals Lessing mit der Inszenierung „Philotas“ von Michael Höppner gesetzt. Regisseur Michael Höppner zeigt Philotas als einen jungen Mann von heute, der Heldenfantasien nachgeht und einem Ideal von Männlichkeit nachträumt. Dem Blick der Menge preis gegeben in einer Arena, die den rundherum sitzenden Zuschauern lückenlosen Einblick in seine Zelle samt der durchsichtigen Dusche erlaubt. Lessings Einakter lebt von der intelligenten Analyse der homosozialen Gemeinschaft des Krieges. Höppner schafft es in dem vielschichtigen Moraldiskurs des Stückes die knisternde Erotik, die hochemotionalen Vater-Sohn-Konflikte, die gebrochenen Ideale und die zeitlose, politische Brisanz sichtbar zu machen. Ein hochdialektisches Stück, das in der genauen Umsetzung von Höppner und seinem grandiosen Ensemble (allen voran Simon Kirsch als Philotas) des Wiener Burgtheaters Lessing einmal mehr als genialen Denker und Schreiber ausweist.
Das letzte Gastspiel „Späte Nachbarn“ unter der Regie von Alvis Hermanis rettete sich dagegen in klamaukige Übertreibung, um die Heimatlosigkeit jüdische Auswanderer in die „Neue Welt“ mit möglichst großem Unterhaltungswert zu illustrieren.
Das Festival hatte den Anspruch Beiträge zur Diskussion um die Schwierigkeiten und Chancen des interkulturellen Zusammenlebens zu liefern. Obwohl nicht alle Abende diesem in gleichem Maße gerecht wurden, hat dieses Festival gezeigt, dass das politische Theater wieder im Kommen ist und auf großes Interesse stößt. Intendant Lux hat es tatsächlich geschafft mit den Lessingtagen einen Ersatz für die vielgeliebten Autorentheatertage in Hamburg zu schaffen.

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