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Ödipus

Ödipus
Unreifer Tyrann
Zwischen all den schwarz gekleideten Gestalten wirkt Ödipus (Bernd Grawert) in seinen schlapperigen Hosen und dem knallblauen Shirt wie ein zu groß geratenes, ungestümes Kind. Ständig in Bewegung agiert er in eitler Selbstherrlichkeit und unüberlegter Spontaneität. Stolz regiert er Theben, denn er ist sich stets seiner großen Tat bewusst: Er hat die Stadt von der Sphinx befreit und danach die Königin (Karin Neuhäuser) zur Frau bekommen.
Doch über Ödipus schwebt ein riesiger gelber Sack. Wie eine umgedrehte Baseballkeule hängt sie über seinem Kopf. Aber er blickt nicht nach oben. Dem Himmel mit seinen Göttern schenkt er keine Beachtung. Nur sein eigenes Regelsystem ist ihm wichtig.
Doch mittlerweile sind die Bürger Thebens unzufrieden mit ihrem Herrscher. Die Pest grassiert in der Stadt. Es müsse einen Schuldigen geben für all das Unglück, das über die Stadt gekommen sei. Ödipus verspricht ihnen Nachforschungen anzustellen und den Verursacher nicht zu schonen. „Forschen!“ buchstabiert, singt und tanzt Ödipus in Verkennung der Tatsachen freudig erregt ob der neuen Rätsel-Aufgabe.
Schwager Kreon (Bibiana Beglau) kommt mit einer Botschaft des Gottes Apoll zurück. Ödipus deutet seine Worte falsch. Während Kreon von der fehlenden Rechtschaffenheit in der Stadt spricht, hört Ödipus von der Schuld eines Täters. Auch der Seher Theresias (Bibiana Beglau) meldet sich zu Wort: Er wisse, wer der Mörder sei. Es sei der König selbst. Ödipus wehrt ab. Reine Machtinteressen leiteten Kreon und den Seher.
Doch der stets anwesende Chor mit seinem Chorführer (Patrycia Ziolkowska) lässt nicht locker. Wie ein lästiger Insektenschwarm heften sie sich Ödipus an die Fersen. Mit Lauten und Worten mahnen sie: Sie wollen die Schuldfrage geklärt wissen.
Königin Jokaste ist die Erste, die die Zusammenhänge begreift: Ödipus ist ihr Sohn, bei dessen Geburt vorhergesagt wurde, dass dieses Kind den Vater töten und die Mutter ehelichen würde.
Gerade hatte sie noch mit Ödipus ein flottes Tänzchen auf die Bühne gelegt, nun geraten Tanzschritte ins Taumeln. Sie bricht zusammen. Ödipus trifft die Erkenntnis mit voller Wucht. Kann ein Mensch unwissend Schuld auf sich laden? Ist Verantwortung an Bewusstsein von Schuld geknüpft? Bei Heiner Müllers Übertragung des antiken Ödipus-Textes entlastet der Götterspruch die Menschen nicht. Die Entschuldigung „Die Anderen sind schuld“, gilt hier nicht, stattdessen: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.“
Dimiter Gottschefs inszeniert das Drama im Thalia Theater als tragisches Modell. Er verweigert ihm jede Konkretisierung. Er zeigt Ödipus als großes Kind, als tragische Gestalt des Nichterkennens, dem die Dimension seiner Verantwortung bis zum Schluss nicht klar wird. In der letzten Szene hat er sich am Boden wälzend das Shirt über den Kopf gezogen. Erkennt er immer noch nicht seinen tragischen Irrtum als Alleinherrscher Thebens, der fatale Fehleinschätzungen traf?
Das Publikum konnte Ödipus Unverständnis zum Teil sehr intensiv nachfühlen. Hölderlins Text, der Grundlage für Müllers Bearbeitung war, unterbindet einen leichten Zugang. Ein paar Verständnishilfen hätten die Erkenntnisfreude des Publikums sicher noch steigern können. So blieb sie hauptsächlich Kennern des philosophischen und literarischen Hintergrunds (oder eifrigen Lesern des Programmheftes) vorbehalten. Da Gottschef die Ablenkung von Müllers Text durch etwaige sinnenfreudige Unterhaltungselemente vermeiden wollte, ist diese Inszenierung eher etwas für Menschen mit hohem Maß an Konzentrationsvermögen, feinem Gehör und Interesse an literaturwissenschaftlichen Diskursen.
Birgit Schmalmack vom 10.12.09

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