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Novecento

Novecento
Freiheit durch Begrenzung

Du bist noch nicht ganz verloren, wenn du eine gute Geschichte und jemanden hast, der dir beim Erzählen zuhört. Novecento hat eine gute Geschichte und er hat einen Freund, dem er sie erzählen kann.
Novecento wurde an Bord des Ozeanüberquerers Virginian geboren. Von seinen Eltern, die höchst wahrscheinlich zu den armen Auswanderern vom Unterdeck gehörten, wurde er in einem Pappkarton im Ballsaal der Ersten Klasse zurückgelassen. Der Maschinist, der ihn fand, nahm sich seiner an. Der Junge wuchs auf dem Schiff heran.
Er brachte sich das Klavier Spielen bei. So wurde er zu einer Legende: zu dem hervorragenden Ozeanpianisten, der nie von Bord gehen sollte und der Musik spielte, die zuvor nie ein Mensch gehört hatte.
Der Trompeter der Band, die den Reisenden die Zeit auf dem Schiff vertreiben sollte, wurde über die sieben Jahre, die sie zusammen auf See verbrachten, zu seinem Freund und Vertrauten. So bekam er eine Geschichte geschenkt, die er wiederum anderen Menschen erzählen kann. Er tut es in einer Zeit, in der er schon alles andere verloren hat. Selbst sein Instrument hatte er verkauft, da er erkannte, wie sinnlos es ist Trompete zu spielen, wenn ringsherum Krieg ist. Der zweite Weltkrieg hat auch der ruhmreichen Zeit der Virginian ein Ende bereitet: Als schwimmendes Lazarett benutzt, war es mittlerweile so heruntergekommen, dass es in die Luft gesprengt werden soll. Als der Trompeter hört, dass Novecento sich auch jetzt noch weigert, von Bord zu gehen, macht er sich auf den Weg zu seinem Freund.
Warum wolltest du nie von Bord gehen?, hatte er ihn vor Jahren einmal gefragt. Damals hatte er keine Antwort bekommen. Jetzt erhält er sie: Die Begrenztheit der 88 Tasten eines Klaviers und der Virginian hätte ihm ermöglicht, die Unermesslichkeit des Lebens und die Unendlichkeit der Musik in sich zu finden. Das Land sei ihm dazu ein zu großes Schiff gewesen.
Thomas Borchert erzählt die Novelle von Baricco auf der Bühne der Kammerspiele. Er wechselt dabei die Rollen, ist meistens der Trompeter, oft Novecento, manchmal der Kapitän, der Maschinist oder ein Fahrgast. Wenn Worte nicht mehr ausreichen, setzt er sich ans Klavier und lässt die Tasten sprechen. Der Begrenztheit des Schiffes entspricht die Beschränkung der Bühnengestaltung auf wenige Elemente: ein Steg, ein Schiffsgeländer, der blaue Himmel und der Flügel. Borchert lässt unter der sensiblen Regie von Martin Maria Blau die Legende des Ozeanpianisten auf der Bühne lebendig werden. Eine große Leistung, die vom Publikum mit einhelligem Applaus belohnt wurde.
Birgit Schmalmack vom 19.5.08

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