Hänsel und Gretel gehen Mümmelmannsberg
Hänsel und Gretel gehn Mümmelmannsberg
Schöner leben am Rand
Fotos by A.T. Schaefer
Zwischen Eichenschrankwand, Esstisch, Couch, Kühlschrank und Fernseher haben sich die Kinder und ihre Eltern eingerichtet. Wenig Platz steht ihnen nicht nur im wirklichen Leben in Mümmelmannsberg sondern auch auf der Bühne des Schauspielhauses vor der Brandschutzwand zur Verfügung. Das führt zu Aggressionen auf beiden Seiten. „Die sind nicht süß!“ stellt die Mutter (Marion Breckwoldt), die ihren massiven Körper unverrückbar in einem Sessel ausgebreitet hat, unmissverständlich fest. „Er bewegt sich nicht aus der Wohnung“, schreit der hilflose Vater (Marco Albrecht), während er auf seinen dahinvegetierenden Sohn (Tristan Seith) einschlägt, dessen schlaffer Kopf wie ein Punchingball hin und her fliegt.
Der überengagierte Lehrer (Achim Buch) in Pfadfinderweste klettert derweil behände von der Loge auf den Kühlschrank und predigt unermüdlich von Möglichkeiten. Die Kinder stellen ihre Sichtweise daneben: Viele Geschwister, überforderte Eltern, Scheidung, Arbeitslosigkeit und Alkohol sind häufig genannte Stichwörter in ihren knappen Berichterstattungen. Dennoch leben sie gerne in ihrem Stadtteil und wollen Arzt, Ingenieur oder Frisörin werden.
Um sich selbst zu retten, entschließen sich die Eltern ihre Kinder im Wald auszusetzen. Das Armutsrisiko Kind soll eliminiert werden. Gebrüder Grimm lassen grüßen. In Mümmelmannstown geht es jedoch nicht mehr um einen Laib Brot, der nicht für alle ausreicht, sondern um eine erste Urlaubsreise, eine bessere Wohnung und neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt, denen Kinder im Weg zu stehen scheinen.
Die Lebenschancen scheinen auch für die Kinder so nah: Castingshows versprechen den schnellen Weg zum Starruhm. Die abgrundtiefen Verachtungs- und Aussiebmechanismen offenbaren die vier Jurymitglieder hinter ihren Pultkarussell. Breckwoldt als beleibter Heidi-Klum-Verschnitt, Buch als Dieter-Bohlen, Albrecht als Schwesterwelle und Seith als dicklicher Raab parodieren den ständigen Survival of the Fittest.
Das Knusperhäuschen, zu dem inzwischen die Kinder unterwegs sind, ist ein bunt leuchtendes Las-Vegas-Exemplar geworden. Dort lockt die Hexe mit süßen Worten und entpuppt sich als Kinder fressendes Monster, dass sie zuvor mit Mac-Donalds-Fresstüten mästet.
Wohlmeinende Bürger gibt es auch in Hamburg. Den Beweis treten die vier Ensemble-Schauspieler mit ihrer Charity-Show an. Der Verein „Wir wollen – mmh - helfen“ überschüttet den Jungen Murat mit ungewünschten Nutzlosigkeiten einzig zu einem Zwecke der Selbstvergewisserung. Ihre Initiative „Schöner leben am Rand“ soll die Grenzziehungen zwischen reich und arm noch eindeutiger machen.
Doch nicht nur bei Grimm gibt es ein Happy-End: Auch bei Volker Lösch trumpfen die Kinder aus Mümmelmannsberg zum Schluss auf: Zu hundert stehen sie auf der Bühne und schmettern dem Publikum die Namen ihrer Stadtteile wie einen Schlachtruf entgegen.
Vom Titel gebenden Märchen blieben nur wenige eingestreute Zitate übrig. Nur vage blieb der Zusammenhang mit den assoziativ eingestreuten Szenen, die sich gerne gängiger Klischees bedienten, um durch deren Karikatur den gesellschaftskritischen Impetus deutlich zu machen. Nach der „Marat“-Skandal-Inszenierung der letzten Spielzeit lieferte Lösch eine Regiearbeit mit breitem Konsens-Potenzial. Dass einhelliger Beifall des Publikums die Premierenvorstellung abschloss, lag wohl nicht zuletzt an den überzeugenden Leistungen der Laiendarsteller, die perfekt von den vier Ensemblemitgliedern ergänzt wurden.
Die Überleitung zum Auftritt von Markus John hätte nicht besser sein können: Mit einer flammenden Rede rief er zur Solidarität mit dem Schauspielhaus auf, das durch die massiven Spareinschnitte im Hamburger Haushalt in seiner jetzigen Form gefährdet sei. Auch diese Bühnenszene endete mit einem Schlachtruf: „Wir sind das Schauspielhaus - Sie auch!“
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