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Glaube Liebe Dunkelziffer

Löcherstopfsystem

Was Kimmig im Thalia Theater auslässt, zeigt Maryn Stucken im Lichthof: Sie macht die brisante Aktualität der Stücke Horvarths aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise hautnah klar. Dazu ergänzt und kontrastiert Stucken sein Stück "Glaube Liebe Hoffnung" um halbdokumentarische Texte aus dem Buch "Draußen tobt die Dunkelziffer" von Katrin Röggla. Die Autorin hatte für ihr Buch Verschuldete und Schuldnerbratungsstellen interviewt und diese Interviews zu einem Text zusammen geschnitten. Stucken stellt nun diese Faktenansammlung der Geschichte der arbeitslosen Elisabeth (Juliette Groß) gegenüber, die ihre Leiche verkaufen will, um an Geld zu kommen.
Sehr geschickt wird so die fiktive Armut von Elisabeth durch die heutige reale Armut kommentiert. Um zu zeigen dass Elisabeth kein Einzelfall ist, lässt Stucken sie gleich in dreifacher Gestalt (Carolin Pohl, Sabine Noll) auftreten. In der Bühnenmitte steht ein dekoratives Aquarium, in dem die schön-glitzernden Goldfische unbeeindruckt ihre Runden ziehen. Dort begegnet Elisabeth dem Polizisten Alfons (Ingo Meß), der ihrem Dasein kurzfristig ein Hauch Hoffnung verleiht. Um sie herum huschen in den dunkel violetten Gängen (Bühne: Marcel Weinand), die die Bühne umgeben, zwei Faktoten (Mirko Thiele, Erik Fiebiger) aus der Elends-Bürokratie. Diese haben sich schon so weit von der Realität der Menschen entfernt, dass sie von ihrer Arbeit und ihren Fällen nur noch tänzelnd berichten. Leichtfüßig gehen sie über die schweren Schicksale hinweg, die für sie nur eine weitere Nummer in ihren Aktenbergen sind.
Eine gebückte, angestaubte Archivarin schiebt auf ihrem Rollenwagen immer wieder neues Röggla-Datenmaterial heran. Die ehemalige Chefin von Elisabeth ist bei Stucken ein Mann (Sönke C.Herm) mit Glatze und Muskelpullunder, der durch sein herrisches Mocho-Gehabe erahnen lässt, welche Dienste ("Expertinnen für Nah- und Fernverkehr") die auf die Straße geworfenen drei Frauen demnächst für ihn werden verrichten müssen.
Stucken findet wunderbar skurrile Bilder. Sie erfindet ein Figurenkarussell des Kapitalismus, das einem Gruselkabinett entstammen könnte und doch leider nur der Realität entnommen ist. Gruselig auch, dass eine der Frauen nach dem Selbstmord von Elisabeth zum Schluss intoniert: "Mich wundert, dass ich so fröhlich bin..." Es ist klar: Das Karussell wird sich weiter drehen und die Menschen werden weiter versuchen ihm hinterherzulaufen und aufzuspringen.
Bestechend eindrucksvolles, hochkünstlerisches Theater, das wieder einmal belegt, dass der Lichthof dieses Jahr zu Recht den Pegasus-Preis verliehen bekommen hat.
Birgit Schmalmack vom 11.11.08

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