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Diplome 2011

Diplome 2011
Eine Hamburger Schule meinte man in den letzten Jahren bei den Dipolminszenierungen der Theaterakademie zu erkennen. Solche Spekulationen schiebt der Diplomjahrgang 2011 einen Riegel vor: Jeder Diplomant verfolgte eindeutig seinen ganz eigenen Ansatz.
„Die Banditen“ ist eine Opéra-bouffe von Jacques Offenbach. Regiediplomant Paul-Georg Dittrich nutzt die Vorlage als Anregungsfundgrube für seine Abschlussinszenierung auf Kampnagel. Werktreue sucht man hier vergeblich. Ein Kammerorchester
sitzt mit auf der Bühne. Auf der auch Mafia-Boss Falsacappa noch an seinen Posen vor der Webcam übt.
Im ersten Akt orientiert man sich noch frei improvisierend am Original. Doch zum zweiten hin mutieren die mit den Kammermusikern zur Band „Die Banditen“ und verwandeln die Operette in ein ganovales Konzert. Zwischen den Operettensongs schrumpft die wahnwitzige Handlung auf Kurzzusammenfassungen in erträglichem Wikipedia-Format zusammen. Mit Verzicht auf Stringenz, Spaß an Ideenvielfalt, Talent zur Leichtigkeit und Lust zur Unterhaltung macht Dittrich die Operette zu einem amüsanten Abend mit einem Hauch Gesellschaftskritik.
Bei „Penthesilea“ gleicht die Bühne einem düsteren, nebligen Schlachtfeld. Wie Särge liegen die schwarzen Kisten in Reih und Glied auf der Bühne. Erst langsam schälen sich die Personen aus dem Dunkel. „Über diese Ebene grollt unverrückt die Schlacht...“ Troja ist umkämpft von Griechen und Trojanern. Da rücken die Amazonen unter Penthesilea an. Diese unerschrockenen Frauen, die sich ihre Männer erobern und nach ihrer Pflichterfüllung im Bett wieder zurückschicken.
Hier inmitten des Kampfgetümmels erblicken sich Achill und Penthesilea zum ersten Mal. Er in goldenem Boxeroutfit, sie in goldenen Partykleidchen. Zum Machtkampf zwischen Mann und Frau wird die Liebe bei Archill und Penthesilea. Unfähig zur Liebe schlägt sie ihren Hunden gleich ihre Zähne in seinen Hals. Der Schaum, der zum Schluss den Bühnenboden bedeckt, glänzt rot vor Blut ihres Liebhabers, den sie eigenhändig ermordet hat.
Anne-Sophie Domenz hat in ihrer Diplominszenierung viel Raum für Experimente geschaffen. Die Lichtregie ließ das Geschehen mal im Dunklen, mal im gleißenden Gegenlicht, mal im Stakkato über weite Strecken fast unerkennbar werden. Der von Kleist zitierte Elefant trampelt als überlebensgroße Puppe mit metallnem Rüssel über die Bühne und wirft mit lautem Getöse die Kästen durcheinander. Auf algenartigen Plastikspänen wälzen sich die Beiden in kurzzeitiger Ekstase. Domenz liefert einen spannungsreichen Abend, der noch überzeugender gewesen wäre, wenn sie auf ein paar der Spielereien hätte verzichten können.
Gleich vier Vertreter des Wissenschaftlers Jekyll stürmen in „Jekyll & Hyde“ von Christopher Rüping auf die Bühne und versuchen die Schriftzeichen auf der Bühne im ultravioletten Licht zu entziffern, um die Geschichte zu rekonstruieren. Was ist mit dem braven Gutbürger geschehen?
Der Professor war bei seinen Forschungen einem Geheimnis auf der Spur: die Abgrenzungen zwischen dem Guten und Bösen im Menschen. Aus dem riesigen Kopftopf seiner Forschung zieht er eine Brille mit angeklebter Nase und Schnurrbart heraus. Sie verwandelt ihn in Hyde. Endlich traut er sich in das Kabinett zur jungen Frau Evi. Der Londoner Regen tröpfelt durch alle Ritzen. Langsam löst sich nicht nur Jekylls Persönlichkeit auf, sondern auch der Boden, auf dem alle stehen. Das Parkett ergibt sich in seine Bestandteile und die Menschen schlittern auf ihren Begierden aus. Hyde hat die Regie übernommen.
Die vierte Diplominszenierung war von ästhetischer, inhaltlicher und inszenatorischer Stringenz. Sie extrahierte aus der Geschichte von Robert Louis Stevenson die Fabel der Identitätsfindung und übersteigerte die Fragehaltung durch Vervierfachung des Protagonisten in zwei männliche und zwei weibliche Verkörperungen. Das Bühnenbild schuf einleuchtende sprechende Bilder.
Eine Frau kommt jeden Tag in die „Rio Bar“. Sie trinkt um zu vergessen. Doch ihre Hochzeitnachtsnacht hat sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Nicht wegen ihres ersten Kusses sondern wegen der Bombenalarms. Seitdem ist ihr Ehemann verschwunden und die Rückkehr zum Glücks der Normalität ist ihr verwehrt.
Der Pappwürfel, aus dem zunächst die Stimmen vom Kriegsbeginn berichten, zerbirst in fünf Einzelteile. Das Haus fällt auseinander und die Personen versuchen sich retten, indem sie sich auf den Teilen wie auf schwimmenden Eisschollen festklammern. Sie versuchen Ordnung zu schaffen in der unübersichtlichen Chaos der möglichen Perspektiven und vielen unbeantworteten Fragen.
„Aktion Sturm“, eine gerechtfertigte Offensive des kroatischen Volkes, um ihre von den Serben besetzten Gebiete zurück zu erobern? Oder eine ethnische Säuberung, für die der Präsident sich zu Recht vor dem Den Haager Kriegstribunal verantworten muss? Wie soll man den Ausländern begegnen, die entweder als Ankläger oder Aufkäufer auftreten: Ausländer raus oder Touristen willkommen? Soll man sich selber einreihen in die aus dem Land drängenden Flüchtlingsströme? Wie kann Versöhnung und nachbarschaftlichen Nebeneinander funktionieren bei dieser Vergangenheit?
Ivana Sajko hat einen Roman über die Kriegsjahre in Kroatien 1991 bis 1995 geschrieben. Ivna Zic hat ihn eindrucksvoll auf die Bühne gebracht. Sie verzichtet dabei bewusst auf den roten Faden. Sie stellt Erinnerungs- und Gedankenfetzen nebeneinander, oft in einem Stimmengewirr eines Chores, das das Chaos des Krieges bestens symbolisiert. Zwischen den zerborstenen Pappresten des Hauses irren die fünf Schauspieler in ihren pastellfarbenen Sommerkleidern herum. Verwirrt, verzweifelt, um Fassung ringend, immer noch kämpfend für ihren Anspruch auf Glück, auf Anteilnahme hoffend und dennoch grenzenlos einsam in ihrem Unglück. Berührende Arbeit, die den Höhepunkt der diesjährigen Diplominszenierungen der Theaterakademie auf Kampnagel darstellte.

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