Tagebuch eines Wahnsinnigen, Garntheater
Realitätsverweigerung
Das letzte Datum, das der kleine Beamte Poprischtschin in sein Tagebuch einträgt, lautet: „Jahr 2048 + 15 Sekunden“. Waren die ersten Datumsanzeigen noch akkurat mit weißem Stift auf schwarzem Tonpapier gezeichnet, wiesen später die Rechtschreibung und Linienführung immer mehr Fehler auf. Dabei ist das gebildete, korrekte Schreiben der ganze Stolz des russischen Titularrates. Doch zu diesem Zeitpunkt ist nicht nur die Schrift verrutscht. Auch der Pelzmantel ist gegen einen löcherigen Wollpullover getauscht worden und die Schuhe ganz verloren gegangen. Poprischtschin ist immer weiter in seine Spirale der Realitätsverweigerung und -verschiebung hineingeglitten. Daran ist seine aussichtslose Liebe zur schönen Tochter des Direktors nicht ganz unbeteiligt. Konnte er zunächst nur die Sprache der Hunde verstehen, hielt er sich später für den spanischen König Ferdinand VIII. Doch er wurde nicht an den spanischen Hof sondern in eine Irrenanstalt gebracht. Zum Schluss steht Adolfo Assor mit wirren Haaren auf dem schrägen kleinen Bett und blickt verschreckt und entzückt zugleich nach oben, als er sich langsam ganz aus der realen Welt verabschiedet.
Assor durchmisst in seinem energiegeladenen Spiel die ganze Klaviatur der Gefühlszustände seines Protagonisten. Nicht nur an seinem Gesicht sondern an seinem ganzen Körper ist die Seelenlage des kleinen Beamten abzulesen. Assor lässt sie versiert hin- und herschwanken, ganz so wie es Poprischtschins geistige Kapriolen erfordern. Das verlangt vom Zuschauer nicht nur volle Aufmerksamkeit sondern ist auch unterhaltsam und mitreißend. Während Assor sonst auch gerne mit abstrakteren Bühnenbildern arbeitet, wie seine Ausstellung im Garntheater beweisen, war für seine Inszenierung des Tagebuch eines Wahnsinnigen der realistischere Nachbau der Amtstube zu Beginn notwendig, um den Kontrast zum weiteren Verlauf deutlich werden zu lassen. Der sympathische Assor, der Kartenverkäufer, Ton- und Lichtmeister, Intendant und Regisseur in einem ist, schlüpft im Nu in die Rolle eines Wahnsinnigen. Einmal durch die Haare strubbeln, die Windjacke abstreifen und Poprischtschin ist in seiner Amtsstube angekommen. Das Publikum war begeistert von diesem ganz besonderen Theaterabend.
Birgit Schmalmack vom 17.7.12